Tagebücher 01 - Literat und Europäer
prächtiger, heller, stiller Wintertag. Die Stimmen, die Manieren, das Benehmen der Menschen sind merklich befangen. Sie spüren, dass jetzt etwas Großes im Leben dieses Volkes geschieht. Sie schwatzen, tauschen Neuigkeiten aus: Die Russen hätten von Budakeszi kommend schon den Széll-Kálmán-Platz erreicht und so weiter. Niemand weiß etwas Genaues. Sicher ist nur, dass sich die deutschen Soldaten davongemacht haben und die ungarischen ohne Waffen herumstreunen. Die Russen haben schon Tótfalu, die Insel, erreicht, sind bereits vom Pfarrer und Notar empfangen worden; sie haben keinem etwas zuleide getan, nur verfügt, dass die Mühle wieder mahlen soll, und die Nationalgardisten mit weißen Armbinden auf Patrouille geschickt.
Auf der Landstraße läuft mir ein Mann über den Weg, wir gehen Seite an Seite. Er ist aus Lajosmizse geflohen; er bedauere sehr, auf die Propaganda hereingefallen zu sein, sagt er. Ich beruhige ihn, er könne bald nach Hause zurückkehren. »Ich habe zwei Morgen jüdisches Land«, murmelt er verstört, »was meinen Sie, ob ich die wohl behalten darf? …« In den Bündeln dieser Flüchtlinge finden sich immer solche zwei Morgen jüdisches Land oder etwas Ähnliches.
Während wir bei Trommelfeuer auf die Russen warten, stellen L . und ich fest, dass wir in den vergangenen Monaten beide ergraut sind. Nicht vor »Schreck«, nein; nur weil die Zeit auch über uns hinweggegangen ist. Eine seltsame Stille umgibt uns, inmitten des Sturms.
Lin Yutangs Moment in Peking ist vielleicht keine »hohe Literatur«, aber diese gelbe Version von Krieg und Frieden entbehrt nicht einer gewissen Größe … Und ich muss immer wieder an den Titel der ungarischen Ausgabe denken: Was jetzt mit uns passiert, ist wirklich nur: ein vergänglicher Moment.
Ich kann in diesem entsetzlichen, wahnsinnigen Streit der Menschen weder Richter noch Staatsanwalt, noch Verteidiger sein; nicht einmal Zeuge kann ich sein. Ich sitze nur unter den Zuhörern auf der Bank, beobachte und lausche.
Inmitten des Trommelfeuers, in einem der heftigsten Augenblicke dieses Weltkriegs, während die uns vertraute Welt in Scherben fällt, spüre ich die Angst, die mich bei allen momentanen Sorgen am meisten beschäftigt. Und diese Angst fragt: Wie wird es sein, wenn das alles vorbei ist, wenn es wieder möglich sein wird, ohne Bomben, Granaten und Terror zu leben, wie werde ich wieder mit dem Dämon fertig werden, dessen Verfolgung ich bisher weder in der Arbeit noch im Vergnügen entkommen konnte? Dem Dämon der Langeweile und der Erwartung, der Unzufriedenheit und der brennenden Neugier. Wie werde ich mit ihm fertig werden, wenn er sich wieder zu Wort meldet? … Er ist mein wirklicher Feind, erst nach ihm kommen alle anderen.
Für die Juden ist das Problem mit dem Einmarsch der Russen auf lange Sicht gelöst: Sie sind befreit. Nun beginnt der schwierigere Teil des Problems: die Befreiung der Christen.
Alle wollen jetzt »jemand sein«: der eine ein Staatssekretär, der andere ein Apotheker, der Dritte ein Richter am Femegericht. Auch ich möchte »jemand sein«.
Ich möchte ein Schriftsteller sein und ungehindert schreiben.
Am Nachmittag begebe ich mich ins Gemeindehaus. Unterwegs erzählt mir eine Frau hysterisch: »Die Russen sind da!« Ich erfahre, dass sie kürzlich bei der Kneipe am Ortsende »sechs Stück« Russen begegnet ist; sie erzählt atemlos, möchte bei mir den Eindruck von etwas Schrecklichem und Außergewöhnlichem wecken; in Wirklichkeit begegnete sie nur sechs Russen auf dem Weg nach Szentendre, erschrak und lief davon, die Russen rannten ihr schreiend hinterher: »Russki nix tut, Russki nix.« Sie umzingelten sie, worauf sie ihnen in ihrem naiven Schrecken ihren Ehering und zwölf Pengő geben wollte; aber die Russen lachten nur und winkten ab, sie solle ihr Geld und ihren Schmuck behalten; sie erkundigten sich, ob sie Kinder habe, und als sie zugab, dass sie zwei Kinder habe, schenkten sie ihr saure Fruchtbonbons und ließen sie gehen.
Im Gemeindehaus wird ein Protokoll aufgesetzt: Der Notar, der Schuster, der Metzger und noch ein paar andere haben den russischen Kommandanten, der jetzt im nahe gelegenen H.-K.-Schloss wohnt, aufgesucht und ihm mitgeteilt, dass die ungarischen und deutschen Soldaten die Gemeinde verlassen hätten, die Einwohner keinen Widerstand leisteten und auf Anweisungen warteten. Der Kommandant – ein Major – empfing sie mit dem Gewehr in der Hand; er war höflich; versprach, dass er die
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