Tagebücher 01 - Literat und Europäer
ist – nicht fortsetzen und beenden konnte. Die Lösung taucht nun klar, plastisch, greifbar im Dunkeln vor mir auf – die einzige »praktische« Lösung, die nicht »ausgedacht« werden könnte. Und nun erblicke, berühre ich sie gleichsam wie ein wunderbares Geschenk, eine Weihnachtsgabe. Was geht da in einer Seele vor sich? … Ich weiß es nicht. Aber es ist nicht wahr, dass meine Blockade durch den Krieg, das Versteckspiel, das Elend verursacht worden wäre; mir fehlte einfach die Vision dessen, was ich schreiben wollte; und jetzt habe ich sie. Wenn ich die nächsten Wochen überlebe, kann ich den Roman zu Ende bringen.
Die Lösung lautet: Die Leidenschaft ist substanziell stärker und echter als alles andere, was einem im Leben begegnet, als der Verstand oder die Lust. Nur sehr arme Menschen haben noch eine Art Leutseligkeit, Herzlichkeit in sich. Der Gärtner von nebenan bringt uns am Morgen spontan einen Liter Milch als Geschenk; von seiner Frau, als »ihr gemeinsames Weihnachtsgeschenk« für uns. Mit Wein und Tabak, Mandeln und Sultaninen erwidere ich ihre Liebenswürdigkeit, die dieses Weihnachten eine größere Wohltat ist als alle Geschenke, die ich je bei vergleichbaren Anlässen bekommen habe.
Der Gärtner und seine Frau sind herzlich, menschlich, weil sie so bettelarm sind, dass sie sich diesen menschlichen Luxus leisten können. Wer etwas hat, fletscht nur die Zähne wie ein Hamster.
Ich habe dieses Jahr viel gelesen, aber nicht immer das, was ich gerne gelesen hätte. Fern von meinen Büchern, von Bibliotheken und Buchhandlungen, in der Not auf Gelegenheitslektüre angewiesen, konnte ich mir meine geistige Nahrung ebenso wenig aussuchen wie meine leibliche … Nun fühle ich mich ein wenig unterernährt , schlecht genährt, auch geistig. Dieser Krieg ist in der Tat total: Körper und Seele leiden gleichermaßen Not.
Ich habe begonnen, das Ende der Schwester zu schreiben.
Weihnachten. Vollmond, eine frostige, klare Landschaft. Ich suche am frühen Abend die kleine Kirche des Ortes auf. Rings um die Kirche deutsche Lastwagen, Munitionskisten, bewaffnete Wachposten. So sieht es aus, wenn es in der deutschen Kriegsberichterstattung später heißt: »Der Feind hat erneut Kirchen und Krankenhäuser bombardiert.«
Die kleine Kirche ist verlassen. Der Himmel ist wie bei Pascal, funkensprühend und beängstigend still. Hin und wieder blitzt eine rote oder gelbe Rakete auf, seltsame Wunderkerzen am Weihnachtsabend. Als ich auf der frostigen Landstraße nach Hause gehe, höre ich jemanden ein französisches Lied singen.
Gegen neun Uhr erlischt das Licht. Dann ein ohrenzerreißender Angriff am gegenüberliegenden Ufer, Trommelfeuer mit schweren Batterien. Dieser entfesselte weihnachtliche Chorgesang dauert bis Mitternacht. Unser kleines Haus am Hang erzittert in der großen Spannung, die über der Landschaft liegt. Ich sitze lange im Dunkeln.
Mir kann gewiss noch vieles zustoßen, Überraschendes, Gemeines, Großartiges; ebenso gewiss ist aber, dass ich nie mehr aus vollem Herzen von etwas überrascht sein werde.
Das Radio schweigt, es gibt keinen Strom. Eine beängstigende Taubheit. Dieser raffinierte, teuflische Mechanismus ist schon genauso zu einem Teil unseres Lebens geworden wie unsere Glieder; ohne ihn sind wir hilflos und gelähmt.
Die Natur wird alles, was jetzt passiert und in Zukunft passieren wird, im großen Konzentrat von Zeit und Materie auflösen. Wozu sich Sorgen machen? Alles hat seinen Platz und geschieht gesetzmäßig.
Nur Gefühle sind eine Last. Erziehe dich zur Gefühllosigkeit. Das ist vielleicht unmöglich … aber eine grausame, notwendige Aufgabe. Du wirst nicht mehr »menschlich« sein; aber umso mehr ein Mensch.
Am Morgen des zweiten Weihnachtstages spricht es sich im Dorf herum, dass die beiden Nachbarorte Tahi und Szentendre gefallen sind und die Russen unmittelbar vor Leányfalu, bei der Kneipe am Ortsende, stehen. Vormittags Trommelfeuer aus Richtung Pomáz, danach gespenstische Stille. Die Brücke, die von Tahi nach Tótfalu führt – zwei Kilometer von meiner Wohnung entfernt –, wurde in der Nacht gesprengt. Alle Deutschen sind aus der Gegend verschwunden. Die Russen haben bei Székesfehérvár die gegnerischen Linien durchbrochen, Bicske erobert; von Budapest führt keine große Straßenverbindung mehr nach Westen .
Am Nachmittag gehe ich die Landstraße hinunter. Die Menschen stehen festlich gekleidet vor ihren Häusern und erwarten die Russen. Ein
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