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Tagebücher: 1909-1923

Tagebücher: 1909-1923

Titel: Tagebücher: 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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schlecht eingeschätzt senkte sich im Halbdunkel langsam ein Engel in bläulich violetten Tüchern, umwickelt mit goldenen Schnüren, auf großen weißen seidig glänzenden Flügeln herab, das Schwert im erhobenen Arm wagrecht ausgestreckt. “Also ein Engel!” dachte ich “den ganzen Tag fliegt er auf mich zu und ich in meinem Unglauben wußte es nicht. Jetzt wird er zu mir sprechen. ” Ich senkte den Blick. Aber als ich ihn wieder hob, war zwar noch der Engel da, hieng ziemlich tief unter der Decke, die sich wieder geschlossen hatte, war aber kein lebendiger Engel, sondern nur eine bemalte Holzfigur von einem Schiffsschnabel, wie sie in Matrosenkneipen an der Decke hängen. Nichts weiter. Der Knauf des Schwertes war dazu eingerichtet Kerzen zu halten und den fließenden Talg aufzunehmen. Die Glühlampe hatte ich heruntergerissen, im Dunkel wollte ich nicht bleiben, eine Kerze fand sich noch, so stieg ich also auf einen Sessel, steckte die Kerze in den Schwertknauf, zündete sie an und saß dann noch bis in die Nacht hinein unter dem schwachen Licht des Engels.
    30 VI 14
    Hellerau Leipzig mit Pick. Ich habe mich schrecklich aufgeführt. Konnte nicht fragen, nicht antworten, nicht mich bewegen, knapp noch in die Augen sehn. Mann der für den Flottenverein wirbt, das dicke Wurstessende Paar, Thomas bei dem wir wohnen, Prescher, der uns hinführt, Frau Thomas, Hegner, Fantl und Frau, Adler, Frau und Kind Anneliese, Frau Dr. Kraus, Frl. Pollak, die Schwester der Frau Fantl, Katz, Mendelssohn (Kind des Bruders, Alpinum, Engerlinge, Fichtennadelbad) Waldschenke, “Natura” Wolff, Haas, Vorlesung von Narciss, im Garten von Adler, Besichtigung des Dalcrozehauses, Abend in der Waldschenke – Bugra – Schrecken über Schrecken. Mißlungenes: Nichtfinden der “Natura”, Ablaufen der Struvestraße; falsche Elektrische nach Hellerau, kein Zimmer in der Waldschenke; Vergessen, daß ich mich von Erna dort antelephonieren lassen will daher Umkehr; Fantl nicht mehr getroffen; Dalcroze in Genf; nächsten Morgen zu spät in die Waldschenke gekommen (F. hat nutzlos telephoniert); Entschluß nicht nach Berlin sondern nach Leipzig zu fahren; sinnlose Fahrt; irrtümlicher Weise Personenzug; Wolff fährt gerade nach Berlin; Lasker-Schüler belegt Werfel; sinnloser Besuch der Ausstellung; schließlich zum Abschluß im Arco ganz sinnlos Pick um eine alte Schuld gemahnt.

    1. VI (Juli) 14 Zu müde.
    5. VII 14 Solche Leiden tragen müssen und verursachen!
      29 VII 14 Notizen über die Reise in ein anderes Heft eingetragen. Mißlungene Arbeiten angefangen. Ich gebe aber nicht nach trotz Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, allgemeiner Unfähigkeit. Es ist die letzte Lebenskraft, die sich in mir dazu gesammelt hat. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß ich nicht desha lb den Menschen ausweiche um ruhig leben, sondern um ruhig sterben zu können. Nun werde ich mich aber wehren. Einen Monat während der Abwesenheit meines Chefs habe ich Zeit.
    31. (Juli 1914) Ich habe keine Zeit. Es ist allgemeine Mobilisierung. K. und P. sind einberufen. Jetzt bekomme ich den Lohn des Alleinseins. Es ist allerdings kaum ein Lohn, Alleinsein bringt nur Strafen. Immerhin, ich bin wenig berührt von allem Elend und entschlossener als jemals. Nachmittag werde ich in der Fabrik sein müssen, wohnen werde ich nicht zuhause, denn E. mit den 2 Kindern übersiedelt zu uns. Aber schreiben werde ich trotz alledem, unbedingt, es ist mein Kampf um die Selbsterhaltung.
    1. (August 1914) K. zur Bahn begleitet. Im Bureau die Verwandten rund herum. Lust zu Valli zu fahren.
    2. (August 1914) Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule
    3 VIII 14
      Allein in der Wohnung meiner Schwester. Sie liegt tiefer als mein Zimmer, es ist auch eine abseits gelegene Gasse, daher lautes Gerede der Nachbarn unten vor den Türen. Auch Pfeifen. Sonst vollendete Einsamkeit. Keine ersehnte Ehefrau öffnet die Tür. In einem Monat hätte ich heiraten sollen. Ein furchtbares Wort: Wie Du es wolltest, so hast Du es. Man steht an der Wand schmerzhaft festgedrückt, senkt furchtsam den Blick, um die Hand zu sehn, die drückt und erkennt mit einem neuen Schmerz der den alten vergessen macht, die eigene verkrümmte Hand, die mit einer Kraft, die sie für gute Arbeit niemals hatte, dich hält. Man hebt den Kopf, fühlt wieder den ersten Schmerz, senkt wieder den Blick und hört mit diesem Auf und Ab nicht auf.
      4 VIII 14 Ich habe dem Hausherrn, als ich die

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