Tagebücher 1909-1923
der Familie ist Strafe genug, ich habe auch derartig gelitten, daß ich mich davon niemals erholen werde (mein Schlaf, mein Gedächtnis, meine Denkkraft, meine Widerstandskraft gegen die winzigsten Sorgen sind unheilbar geschwächt, sonderbarerweise sind das etwa die
gleichen Folgen wie sie lange
Gefängnisstrafen nach sich ziehn) aber augenblicklich leide ich wenig durch meine Beziehung zu der Familie, jedenfalls weniger als F. oder E. Etwas Quälendes liegt allerdings darin,
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daß ich jetzt mit E. eine Weihnachtsreise machen soll, während F. etwa in Berlin bleibt.
8 XII 14 Gestern zum erstenmal seit längerer Zeit in zweifelloser Fähigkeit zu guter Arbeit. Und doch nur die erste Seite des Mutterkapitels geschrieben, da ich schon zwei Nächte fast gar nicht geschlafen hatte, da sich schon am Morgen Kopfschmerzen gezeigt hatten und da ich vor dem nächsten Tag allzugroße Angst
hatte. Wieder eingesehn, daß alles
bruchstückweise und nicht im Laufe des größten Teiles der Nacht (oder gar in ihrer Gänze) Niedergeschriebene minderwertig ist und daß ich zu diesem Minderwertigen durch meine Lebensverhältnisse verurteilt bin.
9 XII 14 Mit Emil Kafka aus Chicago beisammen. Er ist fast rührend. Beschreibung seines ruhigen Lebens. Von 8 – 1/2 6 im Warenhaus. Durchsicht der Versendungen
in der
Wirkwarenabteilung. 15 Dollars wöchentlich. 14 Tage Urlaub, davon 1 Woche mit Gehalt, nach 5 Jahren die ganzen 14 Tage Gehalt. Eine Zeitlang, als in der Wirkwarenabteilung wenig zu tun war, hat er in der Fahrräderabteilung ausgeholfen. 300 Räder pro Tag werden verkauft. Ein Engrosgeschäft mit 10000
Angestellten. Anwerbung der Kunden geschieht nur durch Katalogversendung. Die Amerikaner wechseln gerne die Posten, im Sommer drängen sie sich überhaupt nicht sehr zur Arbeit, er aber wechselt nicht gern, er sieht nicht den Vorteil dessen ein, man verliert dabei Zeit und Geld. Er war bisher in 2 Posten in jedem 5 Jahre und wird, wenn er zurückkommt – er hat unbeschränkten Urlaub – wieder in den gleichen Posten eintreten, man kann ihn immer brauchen, allerdings auch immer entbehren. Abends ist er meistens zuhause, eine Skatpartie mit Bekannten; zur Zerstreuung einmal eine Stunde im Kino, im Sommer ein Spaziergang, Sonntag eine Fahrt auf dem See. Vor dem Heiraten hütet er sich, trotzdem er schon 34 Jahre alt ist, denn die Amerikanerinnen heiraten oft nur, um sich scheiden zu lassen, was für sie sehr einfach, für den Mann aber sehr teuer ist.
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13 XII 14 Statt zu arbeiten – ich habe nur eine Seite geschrieben (Exegese der Legende) – in fertigen Kapiteln gelesen und sie zum Teil gut gefunden. Immer im Bewußtsein, daß jedes Zufriedenheits- und Glücksgefühl, wie ich es z. B.
besonders der Legende gegenüber habe, bezahlt werden muß undzwar um niemals Erholung zu gönnen im Nachhinein bezahlt werden muß.
Letzthin bei Felix. Eindruck eines großen Unglücks. Wie er sich fiebernd, mit trocken an einander sich reibenden Lippen in die Pölster vergräbt. Das was ich an der Frau schwer tragen würde scheint er verhältnismäßig leicht zu tragen, aber anderes schwer. Auf dem Nachhauseweg sagte ich Max, daß ich auf dem Sterbebett vorausgesetzt daß die Schmerzen nicht zu groß sind, sehr zufrieden sein werde. Ich vergaß hinzuzufügen und habe es später mit Absicht unterlassen, daß das Beste was ich geschrieben habe, in dieser Fähigkeit zufrieden sterben zu können, seinen Grund hat. An allen diesen guten und stark überzeugenden Stellen handelt es sich immer darum, daß jemand stirbt, daß es ihm sehr schwer wird, daß darin für ihn ein Unrecht und wenigstens eine Härte liegt und daß das für den Leser wenigstens meiner Meinung nach rührend wird. Für mich aber, der ich glaube auf dem Sterbebett zufrieden sein zu können, sind solche Schilderungen im geheimen ein Spiel, ich freue mich ja in dem Sterbenden zu sterben, nütze daher mit Berechnung die auf den Tod gesammelte Aufmerksamkeit des Lesers aus, bin bei viel klarerem Verstande als er, von dem ich annehme, daß er auf dem Sterbebett klagen wird, und meine Klage ist daher möglichst vollkommen, bricht auch nicht etwa plötzlich ab wie wirkliche Klage, sondern verläuft schön und rein. Es ist so, wie ich der Mutter gegenüber immer ber Leiden mich beklagte, die beiweitem nicht so groß waren wie die Klage glauben ließ. Gegenüber der Mutter brauchte ich allerdings nicht soviel Kunstaufwand wie gegenüber dem Leser.
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