Tagebücher 1909-1923
gewesen, nicht hinzugehn, denn ich will ja eben immer Dich hören. Trotzdem gieng ich her, weil es mir gerade paßte und weil ich auch sehen wollte, ob nicht in Deiner Abwesenheit irgendetwas Wichtiges sich ereignet hat. Daß ich gerade das Kassabuch durchgesehen habe, war Zufall und Zerstreutheit, ich hätte ebensogut beispielsweise die Gummizeitung durchsehn können. Dann fand ich allerdings im Kassabuch einige Posten, die mich begreiflicher Weise interessierten.
Du sollst auch eine abfällige Bemerkung darüber gemacht haben, daß der Vater dafür, daß E. u. die K. bei uns leben, eine Entschädigung annimmt. Was geht Dich denn das an? Wie darfst Du denn darüber urteilen.
30 XI 14 Ich kann nicht mehr weiterschreiben. Ich bin an der endgiltigen Grenze, vor der ich vielleicht wieder Jahre lang sitzen soll, um dann vielleicht wieder eine neue, wieder unfertig bleibende Geschichte anzufangen. Diese Bestimmung verfolgt mich. Ich bin auch wieder kalt und sinnlos, nur die greisenhafte Liebe für die vollständige Ruhe ist geblieben. Und wie irgendein gänzlich vom Menschen losgetrenntes Tier schaukele ich schon wieder den Hals und möchte versuchen für die Zwischenzeit
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wieder F. zu bekommen. Ich werde es auch wirklich versuchen, falls mich die Übelkeit vor mir selbst nicht daran hindert.
2. (Dezember 1914) Nachmittag bei Werfel mit Max und Pick. "In der Strafkolonie" vorgelesen, nicht ganz unzufrieden, bis auf die überdeutlichen unverwischbaren Fehler. Werfel Gedichte und 2 Akte aus "Esther Kaiserin von Persien". Die Akte fortreißend. Ich lasse mich aber leicht verwirren. Die Aussetzungen und Vergleiche, die Max, der nicht ganz mit dem Stück zufrieden ist, vorbringt, stören mich und ich halte das Stück in der Erinnerung beiweitem nicht mehr so in der Gesamtheit fest, wie während des Zuhörens, als es über mich herfiel. Erinnerung an die Jargonschauspieler. W.’s schöne Schwestern. Die ältere lehnt am Sessel, schaut seitwärts öfters in den Spiegel, zeigt, doch schon genügend von meinen Augen verschlungen, mit einem Finger leicht auf eine Brosche, die mitten auf ihrer Bluse eingesteckt ist. Es ist eine ausgeschnittene dunkelblaue Bluse, der Blusenausschnitt ist mit Tüll gefüllt.
Wiederholte Erzählung einer Szene im Teater: Offiziere, die während Kabale und Liebe, häufig untereinander laut die Bemerkung machten: "Speckbacher macht Figur" womit sie eine n Offizier meinten, der an der Wand einer Loge lehnte.
Ergebnis des Tages schon vor Werkel: Unbedingt
weiterarbeiten, traurig daß es heute nicht möglich ist, denn ich bin müde und habe Kopfschmerzen, hatte sie auch
andeutungsweise vormittag im Bureau. Unbedingt
weiterarbeiten, es muß möglich sein trotz Schlaflosigkeit und Bureau.
Traum heute nachts. Bei Kaiser Wilhelm. Im Schloß Die schöne Aussicht. Ein
Zimmer ähnlich wie im "
Tabakskollegium". Zusammenkunft mit Matilde Serao. Leider alles vergessen.
Aus Esther: Die Meisterwerke Gottes furzen einander im Bade an.
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5. XII 14
Ein Brief von Erna über die Lage ihrer Familie. Mein Verhältnis zu der Familie bekommt für mich nur dann einen einheitlichen Sinn, wenn ich mich als das Verderben der Familie auffasse. Es ist die einzige organische, alles Erstaunliche glatt überwindende Erklärung, die es gibt. Es ist auch die einzige tätige Verbindung, die augenblicklich von mir aus mit der Familie besteht, denn im brigen bin ich gefühlsmäßig gänzlich von ihr abgetrennt, allerdings nicht durchgreifender, als vielleicht von der ganzen Welt. (Ein Bild meiner Existenz in dieser Hinsicht gibt eine nutzlose, mit Schnee und Reif überdeckte, schief in den Erdboden leicht eingebohrte Stange auf einem bis in die Tiefe aufgewühlten Feld am Rande einer großen Ebene in einer dunklen Winternacht.) Nur das Verderben wirkt. Ich habe F. unglücklich gemacht, die Widerstandskraft aller, die sie jetzt so benötigen, geschwächt, zum Tode des Vaters beigetragen, F. und E. auseinandergebracht und schließlich auch E. unglücklich gemacht, ein Unglück, das aller Voraussicht nach noch fortschreiten wird. Ich bin davor gespannt und bestimmt es vorwärtszubringen. Meinen letzten Brief an sie, den ich mir abgequält habe, hält sie für ruhig; er
"atmet so vie l Ruhe" wie sie sich ausdrückt. Hiebei ist es allerdings nicht ausgeschlossen, daß sie sich aus Zartgefühl, aus Schonung, aus Sorge um mich so ausdrückt. Ich bin ja innerhalb des Ganzen genügend bestraft, schon meine Stellung zu
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