Tagebücher 1909-1923
jetzt nahe am Ende, gerade zu einer Zeit, wo sich äußerlich alles zum Guten für mich wenden könnte.
Schiebe mich nicht zu den Verlorenen. Ich weiß es ist eine lächerliche, in der Ferne und schon sogar in der Nähe lächerliche Eigenliebe die daraus spricht, aber lebe ich einmal, so habe ich auch die Eigenliebe des Lebendigen und ist das Lebendige nicht lächerlich, dann auch seine notwendigen Äußerungen nicht. Arme Dialektik. [Bin ich verurteilt, so bin ich nicht nur verurteilt zum Ende sondern auch verurteilt mich bis ins Ende hinein zu wehren.]
An dem Sonntagvormittag kurz vor meiner Abreise schienst Du mir beistehn zu wollen, ich hoffte, bis heute leeres Hoffen.
[Und was ich auch klage, ist ohne Überzeugung, selbst ohne wirkliches Leid, schwingt wie der Anker eines verlorenen Schiffes weit über der Tiefe, die Halt geben könnte.] Gib mir nur Ruhe in den Nächten – kindisches Klagen.
21 Juli (1916) Sie riefen. Es war schön. Wir standen auf, die verschiedensten Leute, versammelten uns vor dem Haus. Die Straße war still, wie an jedem frühen Morgen. Ein Bäckerjunge setzte seinen Korb nieder und sah uns zu. Alle kamen dicht hintereinander die Treppe herabgelaufen, die Bewohner aller 6
Stockwerke waren durcheinandergemischt, ich selbst half dem Kaufmann aus dem ersten Stock den Überzieher anzuziehn, den er bisher hinter sich hergeschleift hatte. Dieser Kaufmann führte uns, das war richtig, er war am meisten von uns allen in der Welt durchgesiebt. Zunächst ordnete er uns zu einem Haufen, ermahnte die Unruhigsten zur Ruhe, den Hut des Bankbeamten, den dieser immerfort schwenkte, nahm er und warf ihn auf die
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andere Straßensei te, jedes Kind wurde von einem Erwachsenen an die Hand genommen.
22 (Juli 1916)
Sonderbarer Gerichtsgebrauch. Der Verurteilte wird in seiner Zelle vom Scharfrichter erstochen, ohne daß andere Personen zugegen sein dürfen. Er sitzt am Tisch und beendet seinen Brief oder seine letzte Mahlzeit. Es klopft, es ist der Scharfrichter.
"Bist Du fertig?" frägt er. Seine Fragen und Anordnungen sind ihm dem Inhalt und der Reihenfolge nach vorgeschrieben, er kann davon nicht abweichen. Der Verurteilte der zuerst von seinem Platz aufgesprungen ist, sitzt wieder starrt vor sich hin oder hat das Gesicht in die Hände gelegt. Da der Scharfrichter keine Antwort bekommt, öffnet er auf der Pritsche seinen Instrumentenkasten wählt die Dolche aus und sucht ihre vielfältigen Schneiden noch stellenweise zu vervollkommnen.
Es ist schon sehr dunkel, er stellt eine kleine Traglaterne auf und entzündet das Licht. Der Verurteilte wendet heimlich den Kopf nach dem Scharfrichter, als er aber seine Arbeit bemerkt, schauert ihn, er kehrt sich wieder um und will nichts mehr sehn.
"Ich bin bereit" sagt der Scharfrichter nach einem Weilchen.
"Bereit" ruft mit schreiender Frage der Verurteilte, springt auf und sieht nun doch den Scharfrichter voll an. "Du wirst mich nicht töten, wirst mich nicht auf die Pritsche legen und erstechen, bist ja doch ein Mensch kannst hinrichten auf dem Podium mit Gehilfen und vor Gerichtsbeamten, aber nicht hier in der Zelle ein Mensch den andern Menschen. " Und da der Scharfrichter gebeugt über den Kasten schweigt, fügt der Verurteilte ruhiger hinzu: Es ist unmöglich. Und da auch jetzt der Scharfrichter still bleibt, sagt der V. noch: "Gerade weil es unmöglich ist, ist dieser sonderbare Gerichtsgebrauch eingeführt worden. Die Form sollte noch gewahrt, aber die Todesstrafe nicht mehr vollzogen werden. Du wirst mich in ein anderes Gefängnis bringen, dort werde ich wahrscheinlich noch lange bleiben, aber hinrichten wird man mich nicht. " Der Scharfr.
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lockerte einen neuen Dolch in seiner Wattehülle und sagte: "Du denkst wohl an die Märchen, in denen ein Diener den Auftrag bekam ein Kind auszusetzen, dies aber nicht zustandebrachte, sondern lieber das Kind einem Schuster in die Lehre gab. Das ist ein Märchen, hier ist aber kein Märchen. " Die nicht ganz vollständige Übereinstimmung
21 Aug (1916) zur Sammlung "alle schönen Worte vom Hinauswachsen über die Natur erweisen sich als wirkungslos gegenüber den Urmächten des Lebens" (Aufsätze gegen Monogamie)
27 Aug 16
Schlußansicht nach zwei schauerlichen Tagen und Nächten: Danke Deinem Beamtenlaster der Schwäche, Sparsamkeit, Unschlüssigkeit, Berechnungskunst, Vorsorge u. s. w. daß Du die Karte an F. nicht weggeschickt hast. Es ist möglich, daß Du sie nicht widerrufen hättest, ich
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