Tagebücher 1909-1923
aufgegeben, aber hätte ich mich nur von außen gesehn, hätte ich mein Benehmen nicht anders erklären können. Zu einer freien Aussprache mit neuen Bekanntschaften konnte ich früher deshalb nicht kommen, weil mich unbewußt das Vorhandensein sexueller Wünsche hinderte, jetzt hindert mich ihr bewußter Mangel.
Begegnung des Ehepaares Tschissik auf dem Graben. Sie trug ihr Dirnenkleid aus dem "Wilden Mensche n". Wenn ich ihre Erscheinung wie ich sie damals auf dem Graben hatte in die Details zerlege, wird sie unwahrscheinlich. (Ich sah sie nur flüchtig, denn ich erschrak bei ihrem Anblick, grüßte nicht, wurde auch nicht gesehn und wagte nicht gleich, mich umzudrehn.) Sie war viel kleiner als sonst, hatte die linke Hüfte nicht augenblicksweise, sondern ständig vorstehn, ihr rechtes Bein war eingeknickt, die Bewegung des Halses und Kopfes, die sie ihrem Mann näherte, war sehr eilig, mit dem zur Seite
-178-
gestreckten eingebogenen rechten Arm suchte sie sich in ihren Mann einzuhängen. Der trug sein Sommerhütchen mit der vorn niedergedrückten Krempe. Als ich mich umdrehte waren sie weg. Ich errieth, daß sie ins Kafe Central gegangen waren, wartete ein wenig auf der anderen Grabenseite und hatte das Glück nach einer langen Weile sie zum Fenster treten zu sehen.
Als sie sich zum Tische setzte, sah man nur den Rand ihres mit blauem Sammt überzogenen Pappendeckelhutes. – Im Traum war ich dann in einem sehr schmalen auch nicht übermäßig hohen, glasüberwölbten Durchhaus, ähnlich den ungangbaren Kommunikationen auf primitiven italienischen Bildern, von der Ferne auch einem Durchhaus ähnlich, das wir in Paris gesehen haben, als eine Abzweigung der rue des Petits Champs. Nur war jenes in Paris doch breiter und mit Geschäften angefüllt, dieses aber lief zwischen leeren Wänden hin, ließ im Anblick kaum für zwei nebeneinandergehende Personen Platz, gieng man aber wirklich darin, wie ich mit Frau Tschissik dann war überraschend viel Platz, ohne daß es uns überraschte. Während ich mit Frau T. zu dem einen Ausgang hingieng, in der Richtung zu einem möglichen Beobachter des Ganzen, und Fr. Tschissik sich wegen irgend eines Vergehn (es schien Trunksucht zu sein) gleichzeitig entschuldigte und mich bat ihren Verläumdern nicht zu glauben, peitschte Herr T. am anderen Ende des Durchhauses einen zottigen blonden Bernhardiner, der ihm gegenüber auf den Hinterbeinen stand. Es war nicht ganz deutlich, ob T. mit dem Hund nur spaßte und über ihm seine Frau vernachlässigte oder ob er ernstlich selbst von dem Hund angegriffen war oder ob er schließlich den Hund von uns abhalten wollte.
Mit L. auf dem Quai. Ich hatte einen leichten mein ganzes Wesen unterdrückenden Ohnmachtsanfall, verwand ihn und erinnerte mich nach einer kleinen Weile an ihn, wie an etwas längst Vergessenes.
Selbst wenn ich von allen sonstigen Hindernissen
(körperlicher Zustand, Eltern, Charakter) absehe, erziele ich eine
-179-
sehr gute Entschuldigung dafür, daß ich mich nicht trotz allem auf die Litteratur einschränke, durch folgende Zweiteilung: Ich kann solange nichts für mich wagen, solange ich keine größere, mich vollständig befriedigende Arbeit zustande gebracht habe.
Das ist allerdings unwiderleglich.
Ich habe jetzt und hatte schon Nachmittag ein großes Verlangen, meinen ganzen bangen Zustand ganz aus mir herauszuschreiben und ebenso wie er aus der Tiefe kommt in die Tiefe des Papiers hinein oder es so niederzuschreiben daß ich das Geschriebene vollständig in mich einbeziehen könnte. Das ist kein künstlerisches Verlangen. Als heute Löwy von seiner Unzufriedenheit sprach und von seiner Gleichgültigkeit allem gegenüber was die Truppe tut, legte ich seinem Zustand als Erklärung laut Heimweh unter, gab ihm aber gewissermaßen diese Erklärung nicht hin trotzdem ich sie ausgesprochen hatte, sondern behielt sie für mich und genoß sie vorübergehend für meine eigene Traurigkeit.
9 Dec. (1911) Stauffer-Bern: "Die Süßigkeit der Produktion täuscht über ihren absoluten Wert hinweg"
Wenn man über einem Buch mit Briefen oder Memoiren, gleichgültig von was für einem Menschen diesmal von Karl Stauffer-Bern, still hält, nicht aus eigener Kraft ihn in sich zieht, denn dazu gehört schon Kunst und die beglückt sich selbst, sondern hingegeben, – wer nur nicht Widerstand leistet, dem geschieht es bald – von dem gesammelten fremden Menschen sich wegziehn und zu seinem Verwandten sich machen läßt, dann
Weitere Kostenlose Bücher