Tagebücher 1909-1923
doch, und das ist der ärgste Spott, arbeiten muß, wie ein bewußter Sklave der sein Bewußtsein nicht äußern darf, ein desto kleinerer Raum wird für ihn als genügend befunden. Während die andern und seien sie ihr Leben lang auf dem Krankenbett gelegen, dennoch vom Tode niedergeschlagen werden müssen, denn wenn sie auch aus eigener Schwäche längst selbst gefallen wären, so halten sie sich doch an ihre liebenden starken gesunden Ehe-Verwandten, er, dieser Junggeselle bescheidet sich aus scheinbar eigenem Willen schon mitten im Leben auf einen immer kleineren Raum und stirbt er, ist ihm der Sarg gerade recht.
Wie ich letzthin meinen Schwestern die Selbstbiographie Mörikes vorlas, schon gut anfieng aber noch besser fortsetzte und schließlich, die Fingerspitzen auf einander gelegt, mit meiner ruhig bleibenden Stimme innere Hindernisse bezwang, einen immer mehr sich ausbreitenden Ausblick meiner Stimme verschaffte und schließlich das ganze Zimmer rings um mich nichts anderes aufnehmen durfte als meine Stimme. Bis dann meine aus dem Geschäft zurückkehrenden Eltern läuteten.
Vor dem Einschlafen das Gewicht der Fäuste an den leichten Armen auf meinem Leib gespürt.
8 Dec. (1911) Freitag, lange nicht geschrieben, nur war es diesmal doch halbwegs aus Zufriedenheit, da ich das erste Kapitel von R. u. S. selbst beendet habe und besonders die anfängliche Beschreibung des Schlafes im Koupe als gelungen ansehe. Noch mehr, ich glaube, daß sich an mir etwas vollzieht, daß jener Schillerschen Umbildung des Affekts in Charakter
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sehr nahesteht. Über alles Wehren meines Innern muß ich das Aufschreiben
Spaziergang mit Löwy zum Statthalterschloß, das ich die Zionsburg nannte. Das Maßwerk der Eingangstore und die Himmelsfarbe giengen sehr klar zusammen. – Ein anderer Spaziergang zur Hetzinsel. Erzählung von Frau Tschissik wie man sie aus Mitleid in Berlin in die Gesellschaft aufnahm, eine zuerst wertlose Duettistin in altfränkischem Kleid und Hut.
Vorlesen eines Briefes aus Warschau, in dem ein junger Warschauer Jud über den Niedergang des jüdischen Teaters klagt und schreibt, daß er lieber in die "Nowosti" das polnische Operettenteater gehe, als in das jüdische, denn diese elende Ausstattung, die Unanständigkeiten, die "verschimmelten"
Couplets u. s. w. seien unerträglich. Man denke nur an den Haupteffekt einer jüdischen Operette, der darin besteht, daß die Primadonna mit einem Zug kleiner Kinder hinter sich durch das Publikum auf die Bühne marschiert. Alle tragen kleine Thorarollen und singen: toire is die beste schoire – die Thora ist die beste Ware.
Schöner einsamer Spaziergang nach jenen gelungenen Stellen in R. u. S. über den Hradschin und das Belvedere. In der Nerudagasse eine Tafel: Anna Krizova Schneiderin, ausgelernt in Frankreich durch die Herzogin-Witwe Ahrenberg geb. Princess Ahrenberg. – In der Mitte des ersten Schloßhofes stand ich und sah einer Alarmierung der Schloßwache zu.
Max haben die letzten von mir geschriebenen Partien nicht gefallen, jedenfalls deshalb, weil er sie für das Ganze als nicht passend ansieht, möglicherweise aber auch an und für sich für schlecht hält. Dieses ist sehr wahrscheinlich, weil er mich vor dem Schreiben so langer Stellen warnte und den Effekt solchen Schreibens als etwas Gallertartiges ansieht.
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Um mit jungen Mädchen reden zu können, brauche ich das Nahesein älterer Personen. Die von ihnen ausgehende leichte Störung belebt mir das Gespräch, die Forderungen an mich scheinen mir gleich herabgestimmt, was ich nicht überprüft aus mir heraussage, kann immer noch, wenn es für das Mädchen nicht gilt, für die ältere Person angebracht sein, aus der ich auch wenn es notwendig wird, Hilfe in Menge herausholen kann.
Frl. Haas. Sie erinnert mich an Frau Blei, nur ihre Nase sieht in ihrer Länge, leichten Doppelbiegung und verhältnismäßigen Schmalheit wie die verdorbene Nase der Frau Blei aus. Sonst aber hat auch sie im Gesicht eine äußerlich kaum begründete Schwärze, die nur von einem kräftigen Charakter in die Haut getrieben sein kann. Breiter Rücken, weit vorgeschrittene Anlage zu dem schwellenden Frauenrücken; schwerer Körper, der dann in der gut geschnittenen Jacke dünn wird und für den noch diese schmale Jacke lose ist. Nach Verlegenheiten im Gespräch bedeutet ein freies Heben des Kopfes, daß ein Ausweg gefunden ist. Ich lag ja nicht auf dem Boden in diesem Gespräch, hatte mich auch innerlich nicht
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