Tagebücher 1909-1923
studieren. – Es ist fast Sitte, daß ein Komiker eine Ernste und ein Ernster eine Lustige heiratet und daß berhaupt nur verheiratete oder verwandte Frauenzimmer mitgenommen werden. – Wie einmal um Mitternacht der Klavierspieler wahrscheinlich ein Junggeselle, mit seinen Noten sich durch die Tür hinausdrückte.
Brahmskoncert des Singvereins. Das Wesentliche meiner Unmusikalität ist, daß ich Musik nicht zusammenhängend genießen kann, nur hie und da entsteht eine Wirkung in mir und wie selten ist die eine musikalische. Die gehörte Musik zieht natürlich eine Mauer um mich und meine einzige dauernde musikalische Beeinflussung ist die, daß ich so eingesperrt, anders bin als frei. – Solche Ehrerbietung wie vor der Musik gibt es im Publikum vor der Litteratur nicht. Die singenden Mädchen. Vielen war der Mund nur von der Melodie
offengehalten. Einer mit schwerfälligem Körper flog Hals und Kopf beim Gesang. – Drei Geistliche in einer Loge. Der Mittlere mit rotem Käppchen hört mit Ruhe und Würde zu, unberührt und schwer, aber nicht steif; der rechts ist zusammengesunken mit spitzigem, starren faltigem Gesicht; der links dick hat sein Gesicht schief auf die halb geöffnete Faust gesetzt. – Gespielt.
Tragische Ouverture. (Ich höre nur langsame feierliche einmal hier einmal dort ausgeführte Schritte. Lehrreich ist es, den Übergang der Musik zwischen den einzelnen Spielergruppen zu beobachten und mit dem Ohr nachzuprüfen. Die Zerstörung in der Frisur des Dirigenten).
Beherzigung von Goethe, Nänie von Schiller Gesang der Parzen, Triumpflied – Die singenden Frauen die oben an der niedrigen Balustrade standen, wie auf einer frühitalienischen Architektur.
Sicher ist, daß ich, trotzdem ich eine ziemliche Zeit in oft über mir zusammenschlagender Litteratur gestanden bin,
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seit drei Tagen abgesehn vom allgemeinen Glücksverlangen kein ursprüngliches Verlangen nach Litteratur fühle. Ebenso hielt ich Löwy vorige Woche für meinen unentbehrlichen Freund und entbehrte ihn jetzt drei Tage leicht.
Ich ziehe, wenn ich nach längerer Zeit zu schreiben anfange, die Worte wie aus der leeren Luft. Ist eines gewonnen, dann ist eben nur dieses eine da und alle Arbeit fängt von vorne an 14. XII (1911) Mein Vater machte mir Mittag Vorwürfe, weil ich mich nicht um die Fabrik kümmere. Ich erklärte, ich hätte mich beteiligt, weil ich Gewinn erwartete, mitarbeiten könne ich aber nicht, solange ich im Bureau sei. Der Vater zankte weiter, ich stand beim Fenster und schwieg. Abend aber ertappte ich mich bei dem von jenem Mittagsgespräch ausgehenden Gedanken, daß ich mich mit meiner gegenwärtigen Stellung sehr zufrieden geben könne und mich nur hüten müsse, die ga nze Zeit für die Litteratur freizubekommen. Kaum hatte ich diesen Gedanken näherer Beobachtung ausgesetzt, war er auch nicht mehr erstaunlich und kam mir schon gewohnt vor. Ich sprach mir die Fähigkeit ab, die ganze Zeit für die Litteratur ausnützen zu können. Diese Überzeugung kam allerdings nur aus einem Augenblickszustand, aber sie war stärker als dieser. Auch an Max dachte ich wie an einen Fremden, trotzdem er heute in Berlin einen aufregenden Vorlese- und Vorspielabend hat; jetzt fällt mir ein, daß ich an ihn nur dachte, als ich der Wohnung des Frl. Taussig mich beim Abendspaziergang näherte
Spaziergang mit Löwy unten am Fluß. Der eine Pfeiler des auf der Elisabethbrücke sich erhebenden innen von einer elektr.
Lampe beleuchteten Bogens sah als dunkle Masse zwischen seitlich hervorströmendem Licht wie ein Fabrikskamin aus und der über ihm zum Himmel sich ausspannende dunkle
Schattenkeil war wie steigender Rauch. Die scharf begrenzten grünen Lichtflächen zur Seite der Brücke.
Wie mir während des Vorlesens von Beethoven und das Liebespaar von W. Schäfer verschiedene mit der vorgelesenen
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Geschichte gar nicht zusammenhängende Gedanken (ans Nachtmahl, an den wartenden Löwy) mit großer Deutlichkeit durch den Kopf giengen, ohne mich in dem gerade heute sehr reine n Vorlesen zu stören.
16. (17.) XII (1911) So. 12 Uhr mittag. Den Vormittag vertrödelt mit Schlafen und Zeitunglesen. Angst eine Kritik für das Prager Tagblatt fertigzustellen. Solche Angst vor dem Schreiben äußert sich immer darin, daß ich gelegentlich ohne beim Schreibtisch zu sein, Eingangssätze des zu Schreibenden erfinde, die sich gleich als unbrauchbar, trocken, weit vor dem Ende abgebrochen herausstellen und mit ihren vorragenden
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