Tagebücher 1909-1923
seiner für Europa äußersten Einsamkeit nur russisch nennen kann. Verstärkt wird es noch, wenn man zu dieser späten Abendzeit einen Freund aufsucht, um nachzusehn, wie es ihm geht.
Weltsch eingeladen, zum Benefice der Frau Klug zu kommen.
Löwy mit seinen starken Kopfschmerzen, die wahrscheinlich ein schweres Kopfleiden anzeigen, lehnte sich unten auf der Gasse, wo er auf mich wartete, die Rechte verzweifelt an der Stirn, an eine Hausmauer. Ich zeigte ihn Weltsch, der sich vom Kanapee aus zum Fenster hinüberneigte. Ich glaubte zum erstenmal in meinem Leben in dieser leichten Weise aus dem Fenster einen mich nahe betreffenden Vorgang unten auf der Gasse beobachtet zu haben. An und für sich ist mir solches Beobachten aus Sherlock Holmes bekannt.
6 I 12 Gestern "Vicekönig" von Feimann. Die Eindrucksfähigkeit für das Jüdische in diesen Stücken verläßt mich, weil sie zu gleichförmig sind und in ein Jammern ausarten, das auf vereinzelte kräftigere Ausbrüche stolz ist. Bei den ersten Stücken konnte ich denken, an ein Judentum geraten zu sein, in dem die Anfänge des meinigen ruhen und die sich zu mir hin entwickeln und dadurch in meinem schwerfälligen Judentum mich aufklären und weiterbringen werden, statt
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dessen entfernen sie sich, je mehr ich höre, von mir weg. Die Menschen bleiben natürlich und an die halte ich mich. – Frau Klug hatte Benefice und sang deshalb einige neue Lieder und machte ein paar neue Witze. Aber nur bei ihrem Antrittslied war ich ganz unter ihrem Eindruck, dann bin ich zu jedem Teilchen ihres Anblicks in der stärksten Beziehung, zu den beim Gesang ausgestreckten Armen und den schnippenden Fingern, zu den fest gedrehten Schläfenlocken, zu dem flach und unschuldig unter die Weste gehenden dünnen Hemd, zu der Unterlippe die sich einmal beim Genießen der Wirkung eines Witzes aufstülpt (seht Ihr, alle Sprachen kenn ich, aber auf jiddisch), zu den fetten Füßchen, die in den dicken weißen Strümpfen bis hinter die Zehen durch die Schuhe sich niederhalten lassen. Da sie aber gestern neue Lieder sang, schädigte sie ihre Hauptwirkung auf mich, die darin bestand, daß sich hier ein Mensch zur Schau stellt, der ein paar Witze und Lieder herausgefunden hat, die sein Temperament und alle seine Kräfte auf das vollkommenste vorführen. Da diese Vorführung gelingt, ist alles gelungen und macht es uns Freude diesen Menschen öfters auf uns wirken zu lassen, so werden wir uns natürlich – und darin sind vielleicht alle Zuhörer mit mir einig – durch die ständige Wiederholung der immer gleichen Lieder nicht beirren lassen, wir werden es vielmehr als Hilfsmittel der Sammlung ebenso z. B. wie die Verdunkelung des Saales gutheißen und von der Frau aus gesehn jene Unerschrockenheit und Selbstbewußtheit darin erkennen, die wir gerade suchen. Als daher die neuen Lieder kamen, die an Frau Klug nichts neues zeigen konnten, da die früheren ihre Schuldigkeit so vollkommen getan hatten, und als daher diese Lieder Anspruch darauf machten, als Lieder beachtet zu werden, wozu gar kein Grund war und als sie auf diese Weise von Frau Kl. ablenkten, aber gleichzeitig zeigten, daß auch sie selbst in diesen Liedern sich nicht wohl fühlte und zum teil verfehlte zum Teil übertriebene Gesichter und Bewegungen machte, mußte man verdrießlich werden und blieb
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nur dadurch getröstet, daß die Erinnerung an ihre vollkommene Darstellung von früher infolge ihrer unerschütterlichen Wahrhaftigkeit zu fest war, um sich durch den gegenwärtigen Anblick stören zu lassen.
7. I 12
Frau T. hat leider immer Rollen, welche nur die Essenz ihres Wesens zeigen, sie spielt immer Frauen und Mädchen, die mit einem Schlage unglücklich, verhöhnt, entehrt, gekränkt werden, denen aber nicht Zeit gegönnt ist, ihr Wesen in natürlicher Folge zu entwickeln. An der hervorbrechenden natürlichen Macht, mit welcher sie jene Rollen spielt, die nur im Spiel Höhepunkte, im geschriebenen Stück dagegen, infolge des Reichtums, den sie fordern, bloße Andeutungen sind, erkennt man, was sie zu leisten fähig wäre. – Eine ihrer wichtigen Bewegungen geht als Schauer von den etwas steif gehaltenen, zuckenden Hüften aus.
Ihre kleine Tochter scheint eine Hüfte völlig steif zu haben. –
Wenn die Schauspieler einander umarmen, halten sie einander gegenseitig die Perücken fest. – Als ich letzthin mit Löwy in sein Zimmer hinaufgieng, wo er mir den Brief vorlesen wollte, den er an den Warschauer
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