Tagebücher 1909-1923
Schriftsteller Nombert geschrieben hatte, trafen wir auf dem Treppenabsatz das Ehepaar T. Sie trugen ihre Kostüme für Kol- Nidre, die wie Mazzes in Seidenpapier gepackt waren, in ihr Zimmer hinauf. Wir blieben ein Weilchen stehn. Ich hatte das Geländer zur Stütze der Hände und Satzbetonungen. Ihr großer Mund bewegte sich so nahe vor mir in berraschenden aber natürlichen Formen. Das Gespräch drohte durch meine Schuld ins Trostlose auszugehn, denn durch mein Streben in Eile alle Liebe und Ergebenheit auszudrücken, brachte ich es nur zu der Feststellung, daß die Geschäfte der Truppe elend giengen, daß ihr Repertoire erschöpft war daß sie also nicht mehr lange bleiben könnten und daß die Interesselosigkeit der Prager Juden ihnen
gegenüber
unbegreiflich sei. Montag sollte ich – so bat sie mich – zu Sejdernacht kommen, trotzdem ich es schon kannte. Dann werde
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ich sie jenes Lied (bore Isroel) singen hören, das ich, wie sie sich aus einer alten Bemerkung erinnert hatte, besonders liebe.
Das nächtliche Aussehn, das ich und Max, Weltsch nicht so sehr, gestern mittag auf dem Graben hatten, weil wir so wenig bei Tag spazieren ge hn.
Jeschive sind Talmudhochschulen, welche von vielen Gemeinden in Polen und Rußland ausgehalten werden. Die Kosten sind nicht sehr groß, weil diese Schulen meistens in einem alten unbrauchbaren Gebäude untergebracht sind, in dem sich außer den Lehr- und Schlafzimmern der Schüler die Wohnung des Rosch-Jeschive, der auch sonst Gemeindedienste versieht, und seines Gehilfen befindet. Die Schüler zahlen kein Schulgeld und bekommen die Mahlzeiten abwechselnd bei den Gemeindemitgliedern. Trotzdem diese Schulen auf den strenggläubigsten Grundlagen beruhn, sind gerade sie die Ausgangstätten des abtrünnigen Fortschritts, denn weil hier junge Leute von weit her zusammenkommen und gerade die Armen, die Energischen, die von zuhause fortstreben, da hier die Beaufsichtigung nicht sehr streng ist und die jungen Leute hier ganz aufeinander angewiesen sind und der wesentlichste Teil des Studiums im gemeinsamen Lernen und gegenseitigen Erklärungen schwieriger Stellen besteht, da die Frömmigkeit in den verschiedenen Heimatsorten der Studenten eine gleichartige ist, die nicht besonders zu Mitteilungen auffordert, während der niedergehaltene Fortschritt je nach den
verschiedenen
Ortsverhältnissen in der mannigfaltigsten Weise steigt oder fällt, so daß es hier immer viel zu erzählen gibt, da ferner von den verbotenen fortschrittlichen Schriften sich immer nur eines oder das andere in den Händen eines Einzelnen befindet, während sie in der Jeschive von allen Seiten zusammengetragen werden und hier besonders wirken können, weil jeder Besitzer nicht nur den Text, sondern sein eigenes Feuer weiterträgt, aus allen diesen Gründen und ihren nächsten Folgen sind aus diesen Schulen in der letzten Zeit alle fortschrittlichen Dichter, Politiker,
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Journalisten und Gelehrten hervorgegangen. Dadurch hat sich einerseits der Ruf dieser Schulen unter den Strenggläubigen sehr verschlechtert, anderseits strömen ihnen mehr als früher fortschrittlich gesinntejunge Leute zu. – Eine berühmte Jeschive ist die von Ostro, einem kleinen, 8 Eisenbahnstunden von Warschau entfernten Ort. Ganz Ostro ist eigentlich nur die Einfassung eines ganz kurzen Stückes der Landstraße. Löwy behauptet, es sei so lang wie sein Stock. Als einmal ein Graf mit seinem vierspännigen Reisewagen in Ostro Halt machte, standen die vordern2 Pferde und der hintere Teil des Wagens schon außerhalb des Ortes. – Löwy entschloß sich, im Alter von beiläufig 14 Jahren, als ihm der Zwang des Lebens zuhause unerträglich schien nach Ostro zu fahren. Der Vater hatte ihm gerade, als er gegen Abend die Close verließ, auf die Schulter geklopft und leichthin gesagt, er möchte dann später zu ihm kommen, er habe mit ihm zu reden. Weil hier offenbar wieder nichts anderes zu erwarten war, als Vorwürfe, gieng L. direkt von der Close ohne Gepäck, in einem etwas bessern Kaftan, weil es Samstag abend war, und mit seinem ganzen Geld, das er immer bei sich trug, auf den Bahnhof und fuhr mit dem 10
Uhrzug nach Ostro, wo er um 7 Uhr früh ankam. Er gieng gleich in die Jeschive, wo er kein besonderes Aufsehen machte, weil jeder in eine Jeschive eintreten kann und keine besonderen Aufnahmbedingungen bestehn. Auffallend war nur, daß er gerade zu dieser Zeit – es war Sommer – eintreten wollte, was nicht üblich war,
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