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Tagebücher der Henker von Paris

Tagebücher der Henker von Paris

Titel: Tagebücher der Henker von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Sanson
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hatte. –
    Am Abend des 23. März 1720 ging Charles Sanson allein zwischen den Gesträuchen seines Gartens spazieren, als ein Diener ihn benachrichtigte, daß eine Dame ihn dringend zu sprechen verlange. Von einem solchen Besuche zu dieser Stunde überrascht, befahl er, die Dame in den Empfangssalon zu führen, und beeilte sich, selbst dahin zu gelangen.
    Als der Diener sich anschickte, Kerzen anzuzünden, denn es begann schon zu dunkeln, wandte sich die Dame, die ihr Gesicht mit einem langen Schleier bedeckt hatte, an Charles Sanson und redete ihn mit bewegter Stimme an: »Ich bitte sehr, mein Herr, wenn es Ihnen gleichgültig ist, so lassen Sie nicht Licht anzünden; ich habe Ihnen nur wenige Worte zu sagen, und meine Augen sind so schwach, daß der Lichtschein mir Schmerzen verursacht.«
    Mein Ahne begriff, daß sie die Dunkelheit nur wünsche, um ihre Gesichtszüge besser verbergen zu können, und sowohl aus Diskretion als aus Höflichkeit gab er dem Diener ein Zeichen, sich zurückzuziehen.
    »Beruhigen Sie sich, Madame,« sagte mein Ahne. »Dieses arme Haus empfängt selten so hohen Besuch wie den Ihrigen, aber man kennt und übt darin alle Rücksichten, die man einem solchen schuldet. Ich werde ehrfurchtsvoll warten, bis Sie imstande sind, mir den Grund zu nennen, der Sie hierher führt, denn ich begreife wohl, daß es ein sehr peinlicher und schmerzlicher sein muß.«
    Bei diesen Worten brach die Unbekannte in Tränen aus.
    »O ja!« rief sie endlich, »sehr peinlich, schmerzvoll und herzzerreißend! Glauben Sie wohl, daß ich keine Gnade für ihn habe erhalten können? – ein Kind von zweiundzwanzig Jahren, aber sie haben ihm Verderben geschworen! Sie wollen ihn Ihnen überliefern. Ihnen – Ihnen!«
    Und sie warf einen flammenden Blick auf meinen Ahnen.
    »Hören Sie,« rief sie wieder, »ich werde toll darüber! Ich bin soeben aus diesem verwünschten Palais Royal entwichen, aus dieser Höhle der Begierde und Ausschweifung, weil mir die Wut zum Herzen stieg. Sie erregen alle drei meinen Abscheu: dieser jämmerliche Knecht von Abbé, dieser große Tropf von Schotte und dieser zynische Prinz, die sich einbilden, ihre falsche Münze dadurch, daß sie dieselbe in das Blut dieses unglücklichen Kindes tauchen, vergolden zu können! Es sind Feiglinge!«
    Charles Sanson, der befürchtete, daß diese Erregung zu weit gehen könne, und übrigens begierig war, zu hören, was er bereits ahnte, fragte schüchtern:
    »Erlauben Sie mir, Madame, Ihnen bemerklich zu machen, daß ich noch gar nicht weiß, um was es sich handelt, und daß ich die Personen nicht kenne, von denen Sie sprechen.«
    »Was, du kennst sie nicht? Nun, bei Gott! es ist Dubois, Law, und es ist der hohe Herr Regent! Du wirst sie wohl schon kennen, denn es sind die Spitzbuben, mein Junge, die dir Beschäftigung geben werden, wenn man sie ihren Weg gehen läßt.«
    Überrascht und beinahe beleidigt von dieser plötzlichen Vertraulichkeit erwiderte mein Ahne kalt:
    »Ich bin nur ein armer Beamter des Königs und seiner Parlamentsjustiz; mein Amt ist nicht allein bescheiden, sondern es ist auch von Vorurteilsvollen verachtet; ich versuche deshalb auch nicht, unter den Menschen zu leben, und kümmere mich nicht um die Handlungen der Großen.«
    Die Unbekannte schien nicht darauf zu hören.
    »Ja, wie ich dir eben sagte, habe ich sie vergeblich angefleht, sie haben nicht auf mich hören wollen. Der Abbé machte ein andächtiges und heuchlerisches Gesicht, der Schotte faßte sich an das Kinn; sie sprachen zu mir von Staatsgründen, Finanzen und Bankerott – und er, Philipp, ich glaube gar, er hat einen Augenblick gelacht. O Gott, verdamm' mich! ich werde mich an allen dreien rächen, aber an ihm am letzten. Hüte dich, Law! Hüte dich, Dubois! Und nachher haben wir beide miteinander zu tun, Philipp!«
    Als sie die letzten Worte aussprach, erhob sie sich und begann heftig im Saale umherzugehen. Mantel und Schleier waren gefallen.
    »Du siehst,« sagte sie zu meinem ganz erstaunten Ahnen, »daß ich mich geputzt habe, um ihm zu gefallen, um noch einigen Einfluß auf diesen Prinzen auszuüben, den Leichtfertigkeit und Ausschweifung verweichlicht haben. Es hat nichts geholfen; er hat ebensowenig Sinne als Herz. Als ich ihnen von diesem unglücklichen Kinde sprach, von seiner hohen Geburt, seiner erhabenen Verwandtschaft, seiner Unschuld, denn nicht er hat diesen elenden Juden getötet, da antworteten sie mir nur mit ihrem Papiergelde, mit ihrem System und dem

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