Tages-Deal: Kudamm 216 - Erbsünde (German Edition)
drei kam kurz vor Schluss. Sobald sie zum Ende eines Buches kam, mochte sie sich nicht trennen von ihren Figuren, die sie alle immer irgendwie lieb hatte, sogar die Bösewichte, vielleicht sogar vor allem die Bösewichte.
Alice fand die Gauner immer interessanter als die Guten, sie würde sich selbst ja auch nicht gerade als Gutmensch bezeichnen. Es waren die Ecken und Kanten in den Charakteren von Menschen, die Abgründe, die sie faszinierten. Deshalb gab es in ihren Krimis auch nie Gut und Böse säuberlich getrennt. Alice war überzeugt, dass jeder böse Mensch auch gute Seiten hatte und jeder noch so gute Mensch tiefe Abgründe. Für sie war es das Wichtigste, dass ihre Leser nachvollziehen konnten, warum jemand einen Mord verübt, sie mussten den Mörder nicht hassen. Hassobjekte wie Serienkiller überließ sie gern den schreibenden Pathologinnen aus Amerika.
Alice knetete ihren Fingerübungsball, als ob er was dafür könnte, dass sie alle Plots, die sie bisher angedacht hatte, verworfen hatte. Das Telefonklingeln verhinderte, dass sie den kleinen Gummiball vor Verzweiflung an die Wand warf.
„Ja?“, bellte sie ins Telefon.
„Konstantin von Kaldenberg“, meldete Maria und verband sie mit Exer eins, wie sie Konstantin vor ihren Mitarbeitern zu nennen pflegte.
„Hast du was für mich, Nucki?“, fragte Alice, ohne die üblichen Höflichkeitsfloskeln zu bemühen. Der Kerl kannte sie seit 40 Jahren, der sollte sich bloß nicht so anstellen.
„Ja. Ist aber nicht schön. Ich kann dir nur raten, dich da raus zu halten. Das kann ganz schön gefährlich werden. Und ich meine lebensgefährlich, Baby.“
Alice packte den Ball auf den Schreibtisch. „Erzähle!“
„Sagt dir der Fall Marek Machowina etwas?“
Alice dachte nach. „Machowina? Äh, im Moment klingelt es nicht so richtig. Sollte es?“
„Es sollte. Kannst du googeln. Und dann zwei und zwei zusammen zählen. Die Jungs kommen definitiv aus seinem Umfeld. Alice, lass die Finger davon! Das ist eine Liga, in der du nicht spielst. Hörst du!“
„Ja, ja, Häschen, kannst du mir nicht noch ein bisschen mehr sagen?“
„Nein, nicht am Telefon. Gehʼ googeln, und wenn du dann das Ding nicht fallen lässt wie eine heiße Kartoffel, dann ist dir auch nicht mehr zu helfen.“
„Okay, ich melde mich im Zweifelsfall wieder“, sagte Alice.
„Du könntest dich auch im Nicht-Zweifelsfall mal melden“, schlug Konstantin vor. „Vielleicht könnten wir ja mal zusammen essen, auch wenn du gerade keine Auskunft von mir willst.“
„Machen wir!“, sagte Alice. Als sie auflegte, hörte sie noch Konstantins „Gern geschehen.“
„Maria!“ Sie hatte den Namen auf einen Zettel gekritzelt, den sie ihrer Assistentin jetzt überreichte. „Ich will alles über den Kerl wissen“, verlangte sie, während sie wieder ihren Ball nahm und ihre Finger trainierte.
Deutsche Wertarbeit
Wolfgang trat einen Schritt zurück und betrachtete das Biedermeiersofa, das er soeben fertig gestellt hatte. Der Rahmen aus Buchenholz glänzte honiggelb, die Polster waren dick und gleichmäßig, der Stoff schimmerte seidig und war straff gespannt.
„Prost, Wolfgang“, sagte er. Die Kundin würde am Montag kommen und das Prachtstück abholen lassen. „Eigentlich kann diese dumme Ziege meine Arbeit überhaupt nicht schätzen.“ Darauf trank er einen weiteren Schluck.
Das war das Problem mit schönen, alten Dingen: Die, die sie zu schätzen wussten, hatten in den seltensten Fällen das Geld, um sie sich auch leisten zu können. Und die, die das Geld hatten, hatten oft keinen Geschmack, sondern kauften alles, was teuer aussah oder auf dem ein Label klebte.
Und da soll man nicht verbittern, dachte Wolfgang bei seinem nächsten Schluck. Aber von irgendwas musste er ja leben.
Mit der Flasche in der Hand ging er an seinen Arbeitstisch und knipste die Lampe an. Er zog das Bild mit dem wundervollen Rahmen, das Judith ihm gebracht hatte, darunter hervor. Er strich über das glatte Holz mit den winzigen Intarsien aus Perlmutt und Ebenholz, es war fast ein erotisches Gefühl, diese Arbeit in den Händen zu halten. Der Rahmen würde aussehen wie neu, wenn er mit ihm fertig war, bis dahin konnte er sich daran erfreuen und auch ein bisschen etwas lernen. Wolfgang griff nach seiner Lupe. Er trank einen Schluck auf seinen großartigen Kollegen, der sicher bereits vor zig Jahren das Zeitliche gesegnet hatte.
„Deutsche Wertarbeit“, murmelte er und schaute, wie viel er noch in der
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