Tages-Deal: Kudamm 216 - Erbsünde (German Edition)
ihre Mutter ins Wohnzimmer und schloss demonstrativ die Tür hinter ihr zu.
„Was soll das?“, fragte ihre Mutter, die ihrer Miene wohl ansah, dass Judith kurz vor einem Mord stand. Gabi steckte den Kopf durch die Tür.
„Soll ich euch einen Kaffee machen?“, fragte sie.
„Hau ab!“, zischte Judith.
„Setz‘ dich doch einfach zu uns“, sagte ihre Mutter.
„Verschwinde einfach“, sagte Judith mit einer Eisstimme, von der sie nicht einmal ahnte, dass sie sie hatte…
„Entschuldige, ich wohne auch hier“, stellte Gabi klar. Sie ließ die Tür offen und verzog sich in die Küche.
„Was hast du?“, fragte Judiths Mutter und versuchte einen Arm um ihre Tochter zu legen. Judith schüttelte ihn ab.
„Ich komme von Papa. So geht das nicht weiter, Mama. Er ist kurz davor, total zu verwahrlosen.“
„Das tut mir leid für ihn“, sagte Judiths Mutter und ließ sich in einen cremefarbenen Ledersessel fallen. Typisch Mama. Lippenbekenntnisse.
„Dir tut es leid?“, schrie Judith. „Dir hat noch nie jemand in deinem ganzen Leben leidgetan. Der einzige Mensch, mit dem du je Mitleid hattest, warst du selbst, verdammt noch mal!“
Statt einer Antwort sog ihre Mutter nur hörbar die Luft ein.
„Du bist ja nicht verantwortlich dafür, dass er sich zu Tode säuft. Du bist ja auch nicht dafür verantwortlich, dass er unglücklich ist. Dass er sich vorkommt, wie der letzte Dreck. Dass er glaubt, als Mensch und als Mann versagt zu haben. Wie sagst du immer so schön: Versagt, auf der ganzen Linie. Cool, Mama, wie du dich aus der Verantwortung für alles stiehlst.“
„Und was denkst du, sollte deine Mutter jetzt machen?“ Das war Gabi, die mit einer Flasche Prosecco und drei Gläsern ins Zimmer getreten war. Am liebsten hätte Judith geschrien: Dich verlassen, du dumme Zicke, und endlich wieder zu uns nach Hause kommen.
Zu uns? Ein ‚zu uns' gab es doch gar nicht mehr. Ging es ihr vielleicht gar nicht um ihren Vater? War sie es, die sich verraten fühlte? In ihr schrie alles: Ich will meine Mutter wieder haben, gib mir meine Mutter wieder.
Darum also ging es. Um Judith. Sie war genauso selbstbezogen wie ihre Mutter. Die Erkenntnis traf sie wie ein Stromschlag. Sie ließ sich auf das cremefarbene Sofa fallen.
„Juditha, dein Vater ist erwachsen. Sollte er in seinem Alter zumindest sein. Er ist für sich selbst verantwortlich.“ Judith griff nach dem gefüllten Sektglas. „Er kommt nicht damit klar, er braucht Hilfe“, sagte sie und stürzte den kalten Prosecco in einem Zug runter.
„Ja, das braucht er, aber nicht von mir. Ich habe ihn dreißig Jahre lang unterstützt, ich habe 30 Jahre lang alle seine Fehler vertuscht. Es hat ihm auch nicht geholfen, er hat trotzdem gesoffen. Ich habe es einfach nicht geschafft, ihn glücklich zu machen. Aber er hat es geschafft, mich damit unglücklich zu machen.“
Judith schaute ihre Mutter an. Sie sah jetzt viel jünger, viel strahlender aus. Warum hatte sie ihr nie gesagt, dass ihr Vater sie unglücklich gemacht hatte.
Judith saß auf diesem dämlichen Sofa und versuchte die Tränen runterzuschlucken. Und wie weiter, Juditha?
„Ich muss gehen“, sagte sie mit einem Blick auf die Uhr.
„Arbeitest du heute nicht in der Kneipe?“, fragte ihre Mutter. Sie kannte also tatsächlich ihre Arbeitszeiten.
„Nein, ich arbeite jetzt nur jeden Freitagabend, Samstag und Sonntag Doppelschicht.“ Widerstrebend erzählte sie von ihrem neuen Job bei Alice von Kaldenberg.
„Und was recherchierst du da so?“, fragte ihre Mutter. „Was ist überhaupt mit deinem Kopf los?“
Typisch Mama, dachte Judith, sie übergeht ihre eigene Frage mit einer nächsten Frage. Weil sie die Antwort gar nicht interessiert.
„Ich hatte ein Interview zu machen und bin zufällig dazu gekommen, wie Linda Sprengler überfallen worden ist. Da habe ich einen Schlag abbekommen“, erklärte Judith.
„Linda Sprengler?“, fragte ihre Mutter.
„Etwa die Linda Sprengler, die Frau Professor?“, mischte sich Gabi ein. Judith warf ihr einen missbilligenden Blick zu, sie hatte keine Lust auf eine wie auch immer geartete Unterhaltung mit dieser Frau.
„Du kennst sie?“, fragte Judith dennoch.
Gabi und ihre Mutter telefonierten gerade über den Couchtisch hinweg mit den Augen. Judith hätte am liebsten zugeschlagen. Wie sie diese Intimitäten zwischen den beiden hasste. Sie schlossen sie aus. Bewusst und demonstrativ.
„Linda Sprengler, die Schnipplerin, die obenrum aussieht wie
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