Tages-Deal: Kudamm 216 - Erbsünde (German Edition)
aus. Wie beim letzten Mal blieb alles ruhig. Es war bereits nach neun, um diese Zeit war ihr Vater immer zu Hause. Er würde wohl schlafen, dachte sie und hoffte, dass sie ihn nicht wieder mit einer Flasche im Arm finden würde. Aber ihr Vater war nicht da. Sie rief ihn auf seinem Handy an und hörte, wie es in der Werkstatt klingelte.
Typisch Papa. Die Werkstatt war nicht verschlossen. Du bist mir vielleicht einer, dachte sie. In seiner Werkstatt lagerten wertvolle Möbel und dieser wundervolle Bilderrahmen. Sie trat ein und schaute sich um. Es war ordentlich aufgeräumt, in der Luft hing der Duft von Bienenwachs und von Terpentin. Das Sofa war fertig. Was für ein tolles Stück, Papa hatte mal wieder ganze Arbeit geleistet. Sie schaute sich nach dem Bilderrahmen um. Zunächst sah sie nichts. Sie ging in die Laube, in der Papa wohnte. Auch dort war nicht abgeschlossen. Allerdings sah es hier genauso unordentlich aus wie beim letzten Mal. „Ich habe es nicht geschafft, ihn glücklich zu machen“, hatte ihre Mutter gesagt. Aber immerhin hatte sie für ihn geputzt und für ihn gesorgt.
Judith musste vor sich selbst zugeben, dass ihr geliebter Vater anfing, zu verwahrlosen. Unter einem Prospekt von Edeka fand sie seine Geldbörse. Das war merkwürdig. Ohne seine Geldbörse verließ er niemals das Haus. Wo also war er hin? Sie saugte den zerschlissenen Teppichboden, der immer ein wenig nach Moder roch, denn hier war es das ganze Jahr über feucht, vor allem im Winter, wenn der kleine Bollerofen in der Ecke den großen Raum nur notdürftig heizte. Die Datscha war ein Sommerquartier, aber ihr Vater zog es seit seiner Trennung vor, hier auch im Winter zu wohnen. Was man so wohnen nennt, dachte sie und betrachtete die heruntergekommenen Möbel aus DDR-Produktion. Der Schuster hat immer den schlechtesten Leisten, folgerte sie angesichts dieser Ansammlung von Scheußlichkeiten. Wieso machte ihr Vater es sich nicht ein bisschen schön, er hatte doch genügend Quellen für alte Möbel.
Ein Zug donnerte vorbei. Dieses Geräusch hatte sie ihre ganze Kindheit begleitet, die Regionalbahn von Nauen nach Senftenberg. War er etwa mit dem Barky unterwegs? Sie hatte den alten, völlig verrotteten Barkas draußen nicht gesehen, aber das war nicht ungewöhnlich, manchmal parkte Papa auch um die Ecke. Auf jeden Fall waren die Papiere in Papas Geldbörse. Was sollte sie tun? Hier auf ihn warten oder nach Hause fahren. Sie entschloss sich, zu warten. Draußen war es immer noch ein bisschen hell, sie schnappte sich einen Liegestuhl und legte sich unter ihren alten Kirschbaum. Ihre Mutter hatte daraus immer eine tolle Marmelade gemacht. Damals. Vorher. Judith schloss die Augen und lauschte den Geräuschen ihrer Kindheit. Das Summen der Insekten, der Wind in den Blättern, dieser Geruch nach Erde, Bahndamm und Gräsern. Sie hatten als Kinder am Bahndamm gespielt. Was sie natürlich nicht durften …
Als sie aufwachte, blinzelte sie in den Mond. Wie spät war es eigentlich? Sie versuchte etwas auf ihrer Armbanduhr zu erkennen, es war einfach zu dunkel. Steif erhob sie sich. So ein Holzliegestuhl war nicht der gemütlichste Platz, um zu schlafen. War Papa immer noch nicht zu Hause? Judith streckte sich und humpelte zur Datscha. Sie war leer. Es war schon halb zwölf. Hatte Papa etwa eine neue Freundin? Nein, entschied sie, wenn ihr Vater eine Freundin hätte, dann wäre hier aufgeräumt. Entweder durch ihn oder durch sie. Wo also war er? Ihr Herzschlag beschleunigte auf 140 Umdrehungen pro Minute. Vor ihrem inneren Auge spielten sich Horrorszenarien ab.
Sie kochte sich einen Kaffee. Wie laut konnte eigentlich eine Küchenuhr ticken? Der Eisschrank machte ein Geräusch wie eine Waschmaschine. Verdammt, wo blieb Papa?
Judith ging noch einmal in die Werkstatt und schloss die Tür hinter sich. Da sah sie die Bescherung. Hinter der Tür lag der Bilderrahmen von Nils. Oder zumindest das, was davon übrig war. Sie bückte sich und hob die Teile vorsichtig auf. Durch ihren Sturz hatte das Ding ja bereits einen großen Knacks gekriegt, jetzt aber war der Bilderrahmen total zerbrochen. Du liebe Güte, Papa, was hast du damit gemacht?, fragte sie sich. Und wo war das Bild? Ihr wurde heiß.
Okay, ganz ruhig Juditha. Das Bild war ja sowieso wertlos. Und den Rahmen würde Papa schon richten können. Aber was war hier passiert?
Onkel Egon! Plötzlich war ihr klar, wo ihr Papa war. Natürlich, bei seinem alten Freund Egon. Irgendwas war mit dem
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