Tages-Deal: Kudamm 216 - Erbsünde (German Edition)
sie sank damit bis zur Hälfte in dem aufgeweichten Boden ein. Am liebsten wäre sie über Nacht in der Klinik geblieben, die Atmosphäre in der Remise war fast unerträglich. Es war, als ob Sabine und sie sich belauerten. Kein Wort, das sie miteinander sprachen, klang echt. Lindi, Biene, verdammt, ihr war nicht nach Biene, oder gar nach Bienchen. Am liebsten hätte sie laut geschrien: Ich heiße Linda, du blöde Kuh!
Sabine ahnte etwas, traute sich aber nicht, etwas zu sagen. Was weiß sie?, fragte sich Linda. Was weiß ich? Es war, als ob sie beide auf irgendetwas warten würden. Und das, worauf sie warteten, war nichts Gutes. So wie damals, im Sommer 1954.
Zurück aus Bornholm hatten Lindi und Siggi sich umrundet wie der Habicht seine Beute. Dabei wurde niemals geklärt, wer der Habicht und wer die Beute war. Letztendlich war es auch nicht von Belang. Sie redeten nicht mehr wie Geschwister miteinander reden, sondern jeder Satz, jedes Wort schien jetzt eine geheime Bedeutung zu haben. Sie gaben sich gegenseitig Signale, ohne dass sie in der Lage gewesen wären, diese richtig zu deuten. Sie gingen sich aus dem Weg, um sich auf dem kürzesten Weg wieder zu treffen. Sie beobachteten sich, wichen sich aus, waren befangen. Ihr Vater war immer noch in den USA und Gerda war es herzlich egal, was sie machten. Siggi fuhr mit seinen Freunden mit dem Rad zur Havel, Linda fuhr mit ihren Freundinnen mit dem Rad zum Teufelssee. Er ging mit seinen Freunden ins Kino, Linda ging mit ihren Freundinnen in ein anderes Kino. Egal, was sie taten, wo sie waren, mit wem sie unterwegs waren, ihre Gedanken kreisten nur um einander. Siggi und Lindi. Lindi und Siggi.
Himmel, wenn ich daran denke, dass ich mich gleich mit Sabine an einen Tisch setzen muss, um mein Abendbrot einzunehmen, dann könnte ich auf den Tisch brechen. Vielleicht sollte ich essen gehen, besser alleine essen, als Smalltalk zu machen. So wie damals mit Siggi.
„Was ist eigentlich los mit euch?“, hatte Gerda, die Haushälterin, gefragt, als sie abends schweigend in ihrer Küche saßen und kaltes Hühnchen mit Kartoffelsalat in sich hineinstopften. Sie brachten es zur Meisterschaft im Smalltalk, über das Wetter, über Gerdas Hühnchen, über die Ansichtskarten von Papa. Sie trauten nicht mehr, sich anzuschauen, wenn ihre Blicke sich durch Zufall trafen, dann schauten sie betreten zur Seite, senkten verschämt die Lider, bedeckten ihre Augen, aus Angst, sich zu verraten. Nachts lag Linda in ihrem Bett und dachte an Siggi. An seinen Duft, an das, was zwischen ihnen stand, an den schlafenden Riesen. Oh, sie wussten genau, was sie taten. Dass sie Unrecht taten. Natürlich wussten sie es. Sie schämten sich vor sich selbst, im Sommer 1954.
Schreck in der Abendstunde
„Bist du vollkommen verrückt geworden?“ Wolfgang war fassungslos. „Du kannst doch nicht einfach das Bild wegmachen, was soll ich denn meiner Tochter jetzt sagen?“
„Kau mir kein Ohr ab, komm rüber“, sagte Egon und legte auf. Wolfgang war stinksauer. Im Sturmschritt ging er zu Egons Haus und donnerte mit der Faust an die Garagentür.
„Kommʼ rein, der Doktorand von meinem Schwager ist auch gleich hier mit dem Bild. Das ist Wahnsinn, Wolfgang, wir haben einen echten Monet entdeckt!“
„Ja, Wahnsinn, du sagst es, weißt du eigentlich, was du da gemacht hast? Das ist Sachbeschädigung!“
„Nun warte erst mal ab, mein Gutster, deine Judith wird dir dafür die Füßchen küssen.“
In diesem Moment fuhr ein Auto vor. Egon öffnete die Garagentür. Timo Gazlig stieg aus seinem zerbeulten Opel Corsa und holte das Bild heraus. Sie stellten sich vor. Egon bot einen Schnaps an, Wolfgang zündete sich eine Zigarette an. Und dann präsentierte Timo seine Ergebnisse.
„Das habʼ ick im Urin jehabt“, sagte Egon.
„Ja, aber was bedeutet das jetzt?“, fragte Wolfgang.
„Irgendjemand hat einen echten Monet kaschiert. Und der so genannte echte Monet ist vielleicht ein falscher“, erklärte Timo.
Wolfgang hatte den jungen Mann beobachtet. Der Junge war aufgeregt wie ein Konfirmand bei seinem ersten Kuss. Konnte man diesem Jungen trauen? Er hatte keine Ahnung. Absolut keine.
Judith in Panik
Auf dem Nachhauseweg traf Judith spontan die Entscheidung, nach Blankenfelde zu fahren, um zu sehen, wie weit ihr Vater mit dem Rahmen war. Ein Vorwand, denn eigentlich wollte sie nur mal schnell in den Arm genommen werden.
Als sie die Gartenpforte öffnete, stieß sie wieder den Schillingschen Pfiff
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