Taken
deinem ersten Training, was mehr ist, als die meisten von sich behaupten können.« Ich danke ihm, und er entschuldigt sich und brummt etwas von einer Lagebesprechung, für die er bereits zu spät dran ist.
Ich bleibe auf dem Boden sitzen und strecke meine Muskeln, die sich bereits verhärten. In einiger Entfernung beendet Brees Gruppe ihr Training. Mein Vater lässt seine Leute an Tauen hochklettern, die an in der Decke verankerten Haken hängen, und Bree gleitet daran auf und ab, als erledige das Seil die Arbeit ganz allein.
Ihre letzte Übung besteht darin, einen Weg zwischen zwei erhöht angebrachten Plattformen im hinteren Teil des Raums zu finden, was unmöglich erscheint. Der Abstand zwischen den beiden ist groß, und bei einem Sturz würde man sich bestimmt ein paar Knochen brechen. Der größte Junge der Gruppe, der wie ein Bär aussieht, springt einfach hinüber; aber seine Beine sind auch so lang, dass er einen unfairen Vorteil hat. Der größte Teil der Gruppe gibt auf und kann die Übung nicht durchführen. Bree dagegen nimmt einen Speer in die Hand und rennt in vollem Lauf auf die Lücke zu. Als sich ihre Füße dem Rand nähern, sticht sie mit der Spitze des Speers in die Kante der Plattform und stößt sich in die Luft ab. Der Speer biegt sich elegant und schleudert sie über den Abgrund wie einen Vogel. Auf dem Gipfel ihrer Sprungkurve lässt sie den Speer los und landet sicher auf der anderen Plattform. Sie geht in die Knie, setzt die Hände auf den Boden und richtet sich dann auf. Mein Vater klatscht Beifall, aber auch die anderen starren sie an. Ich ebenfalls. Sie ist vollkommen verrückt – ungestüm und rücksichtslos. Missbilligend verziehe ich das Gesicht, bis mir klar wird, dass ich selbst nicht viel anders bin. Sobald das Training vorüber ist, eilt mein Vater davon und meint, er müsse zu Elijah stoßen.
»Die Kommandanten treffen sich täglich zu Lagebesprechungen«, erklärt Bree und kommt auf mich zu. Der Ausschnitt ihres Hemds ist schweißnass. »Das Neueste über den Krieg, Planung, Taktik, so etwas.«
Ich stehe auf und recke die Arme über den Kopf. Jeder Muskel in meinem Körper protestiert vor Erschöpfung. Ich spüre jetzt schon, wie sich der Muskelkater bildet.
»Bibliothek?«, fragt sie und wechselt das Thema.
»Auf jeden Fall. Falls du noch bereit bist, mich hinzubringen.«
Sie zieht einen Mundwinkel hoch. »Es steht nicht gerade ganz oben auf meiner Wunschliste, aber ich weiß, wie dringend du die Wahrheit erfahren willst. Und außerdem hat dein Vater sehr viele Einzelheiten ausgelassen. Zum Beispiel die Ausmaße des Projekts.«
»Die Ausmaße?«
Bree lächelt selbstzufrieden. »Man hasst Frank noch mehr, wenn man weiß, dass es nicht nur eine Testgruppe gab, sondern fünf.«
»Fünf? Also fünf verschiedene Claysoots?«
»Na, was denkst du denn, woher ich komme, Holzkopf? Du hast doch nicht geglaubt, ich gehöre zu diesen schnöden Ordensleuten, die sich auf die Seite der Rebellen geschlagen haben, oder?«
»Tust du nicht?«
»Ach bitte, Gray«, sagt sie. »Sogar du hast zugegeben, dass ich gut bin – leise, unsichtbar, schnell. Eigentlich sollte es dich nicht überraschen, dass an manchen Orten Mädchen geraubt werden.«
Das erklärt alles: ihre fließenden, schnellen Bewegungen und die vollkommene Lautlosigkeit, mit der sie eine Spur verfolgt. Sie ist zäh, ungezähmt und stark. Bree ist wie ich, nur dass sie aus einem anderen Claysoot stammt.
Und plötzlich finde ich sie doppelt so interessant.
Als wir den Trainingsraum verlassen, drängt sich der Riesenkerl, der eben von Plattform zu Plattform gesprungen ist, an uns vorbei. Er ist gut einen Kopf größer als ich, und seine Hände sind so groß wie Hornissennester.
»Das war eine schöne Vorstellung vorhin, Bree«, sagt er und streicht ihr auf eine Art über die Schulter, die eher herablassend als aufrichtig wirkt. »Weißt du, nichts ist so sexy wie eine starke, aggressive Frau.«
»Ich bin nicht interessiert, Drake«, gibt sie zurück und schlägt seine Hand weg.
Drake streckt sie erneut nach ihr aus. »Ach, komm schon, Bree, du weißt doch, dass du es willst.«
»Sie sagte doch, dass sie nicht interessiert ist«, fauche ich.
»Hör mal, niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt.« Er stößt mich mit beiden Händen so fest vor die Brust, dass ich fast umfalle.
»Nein, aber du hast nach ihrer gefragt, und sie hat abgelehnt, also geh weiter.« Seine Faust trifft meinen Kiefer, ohne dass ich sie
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