Taken
Treppe und zieht eine hölzerne Ente hinter sich her, mit der schon Blaine und ich als Kinder gespielt haben. Sie war ein Geschenk von unserem Vater, bevor er ebenfalls dem Raub zum Opfer gefallen ist. Wir waren beide noch zu jung, als dass wir uns daran erinnern könnten, wie wir das Geschenk bekommen haben – oder überhaupt an unseren Vater –, aber Ma sagte, er hätte das Tier selbst geschnitzt, es in mehr als drei Monaten aus einem einzigen Stück Holz gefertigt. Inzwischen zeigt die Ente Spuren ihres Alters. An ihrem Schnabel fehlt ein Stück, und eine ungleichmäßige Kerbe läuft an ihrem Schwanz entlang. Als Kale jetzt auf mich zu gehüpft kommt, poltert das Tier schwerfällig die Stufen hinunter und landet immer auf der verkehrten Seite.
»Onkel Gray!«, ruft Kale aus. Sie ist ein kleines Ding, noch keine drei. Ihre Nase ist noch weich und rosig wie ein winziger Knopf, der in der Mitte ihres Gesichts festgenäht ist. Als ich näherkomme, strahlt sie.
»Hallo Kale. Was machst du da?«
»Ich gehe mit Ducky spazieren. Mama hat es erlaubt.« Sie zieht das Holzspielzeug hinter sich her, das auf die unbefestigte Straße knallt. »Wo ist Pa?« Aus ihren strahlend blauen Augen sieht sie zu mir auf. Sie sehen genau wie Blaines Augen aus.
»Ich bin mir nicht sicher. Warum kommst du nicht mit auf den Markt? Vielleicht finden wir ihn zusammen.« Ich strecke ihr meine Hand entgegen, und sie nimmt sie. Mollige Fingerchen schlingen sich um meinen Daumen.
»Pa fehlt mir«, murmelt sie, während wir weitergehen.
Ich lächle ihr zu, aber es gibt nichts weiter zu sagen. In solchen Momenten habe ich das Gefühl, Glück gehabt zu haben. Ich bin nicht Blaine. Ich werde nicht achtzehn. Ich bin kein Vater. Ich werde nicht verschwinden, wenn jemand anderer mich am dringendsten braucht. Wenn Kale Blaine jetzt schon vermisst, obwohl er nur bei der Arbeit ist oder noch schläft, wie wird sie sich dann morgen fühlen, nach dem Raub? Wie soll ich ihr das erklären? Kann das überhaupt jemand?
Auf dem Markt herrscht wie immer reges Treiben. Frauen und Mädchen bieten Kräuter, Stoff und Gemüse an. Auch Jungen sind da, alle in meinem Alter oder jünger. Manche hieven frisch erlegtes Wild auf Tische, andere Werkzeuge, Waffen oder Geschirre für Zugtiere, aber alle betreiben Tauschhandel mit unterschiedlichen Waren. Kale tritt hinter mir von einem Fuß auf den anderen, während ich mit Tess feilsche, einer älteren Frau, die Baumwollstoff und in der Näherei angefertigte Kleidung anbietet.
»Ich weiß, Tess. Es ist mir schon klar, dass ein einziger Vogel keine neue Jacke wert ist«, gestehe ich und lege eine meiner Wachteln vor sie hin. »Aber weißt du noch, wie ich dir vor zwei Wochen das Kaninchen praktisch umsonst gegeben habe, weil du in der Klemme warst?«
»Gray, du weißt, dass ich mein Geschäft aufgeben könnte, wenn ich jeden Handel nur aus Freundlichkeit abschließen würde.«
»Sie ist für Blaine«, erkläre ich und reibe mit dem Daumen über die Holzknöpfe der Jacke. Sie ist aus einem schweren Baumwollstoff mit dunkelbraunen und schwarzen Streifen gefertigt. »Er hat sich immer eine gute Jacke gewünscht, und ich wollte ihm eine zum Geburtstag schenken, auch wenn er sich nur einen Tag daran erfreuen kann.« Ich gebe vor, ihre Handarbeit zu bewundern, aber hinter meinen Ponyfransen beobachte ich, wie sie darauf reagiert, dass ich plump an ihr Mitleid appelliere. Tess beißt sich nervös auf die Lippen. Sie weiß genauso gut wie alle anderen, dass Blaine heute Nacht der Raub bevorsteht.
»Ach, schön, dann nimm sie«, sagt sie und schiebt mir die Jacke zu. »Aber jetzt sind wir quitt.«
»Natürlich.« Ich nehme Kale bei der Hand, und wir verlassen den Markt. Über meiner Schulter hängt eine neue Jacke, und der andere Vogel baumelt immer noch an meiner Hüfte.
Kale zieht weiter die Holzente hinter sich her, als ich den Heimweg einschlage, zu dem Haus, das Blaine und mir gehört. Es liegt am Südrand des Dorfes, hinter den anderen Häusern, wo es ruhig und friedlich ist. Ich runzle die Stirn, als mir klar wird, dass es in weniger als einem Tag nicht mehr uns gehören wird, sondern mir .
»Ah, was für ein rührender Anblick.« Höhnisch grinsend steht Chalice Silverston vor uns. »Vater und Tochter, vielleicht auf einem letzten Spaziergang?«
Ich hebe den Kopf und starre sie wütend an.
»Oh. Hallo, Gray. Ich hatte dich mit deinem Bruder verwechselt.« Jetzt hat sie meine Augen gesehen, das Einzige, was
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