Taken
nachhänge, obwohl Blaine bald für immer fort sein wird. Warum kann ich mich nicht anständig benehmen? Warum kann ich mich nicht verabschieden?
Ich bin an der Reihe.
Blaine ergreift als Erster das Wort.
»Hey, Gray.« Er trägt immer noch seine neue Jacke.
»Hey.« Mehr bringe ich nicht heraus.
»Du hast das Bankett verpasst.«
»Ist schon in Ordnung. Es kommen noch andere.« Das stimmt. Bei jedem Raub findet eine Zeremonie statt, und zu jeder Zeremonie wird ein Festessen veranstaltet, um uns vom Ernst der Lage abzulenken.
»Dir scheint es gut zu gehen«, setze ich hinzu und sehe zu ihm auf, zu meinem Spiegelbild, das sich nur durch die blauen Augen von mir unterscheidet. Ich bezweifle, dass ich nächstes Jahr um diese Zeit so ruhig sein werde. Mir fehlt seine gefasste Haltung. Wahrscheinlich werde ich zu den Jungen gehören, die jede Beherrschung verlieren, wenn der Raub näher kommt, während der Zeremonie nicht an sich halten können und panisch zusammenbrechen.
»Nun ja, ich kann nichts unternehmen, um es aufzuhalten«, erklärt Blaine offen. »Es kommt so oder so, also kann ich ebenso gut versuchen, diese letzten Momente mit allen zu genießen.«
Letzte Momente. Das Ende.
»Du wirst mir fehlen, Blaine.« Ich kann mich nicht überwinden, ihn anzusehen.
»Ich werde dich auch vermissen, aber wir sehen uns ja bald. Was immer jetzt kommt, der Tod oder etwas anderes, ich glaube, dass wir uns wiedersehen.«
Er zwinkert mir zu. Diese heitere Note in einer so ernsten Nacht überrumpelt mich, aber dann wird mir klar, dass er mich trösten will. Ich sollte ihn trösten, vor allem angesichts dessen, was vor ihm liegt, und trotzdem steht er hier und erzählt mir , dass alles gut werden wird. Er spielt den großen Bruder so gut.
Ich umschlinge ihn fest und schließe die Arme um seinen Rücken, und er drückt mich ebenfalls. Wir umarmen uns nicht ausführlich oder übermäßig lange, und keiner von uns weint. Aber als ich ihn schließlich loslasse und mich entferne, habe ich das Gefühl, als wäre mir ein Stück meiner selbst aus der Brust gerissen worden.
Maude tritt auf Blaine zu, und ich wünsche mir, sie würde langsam machen. Ich möchte nicht, dass dies endet, denn wenn sie fertig ist, wird es Zeit. Es muss beinahe Mitternacht sein, und dann bricht ein neuer Tag an. Ein Tag, der zugleich Blaines Geburtstag und sein Ende ist. Maude umarmt Blaine sanft und flüstert ihm ihre Abschiedsworte ins Ohr. Sie zieht sich zurück. Wir warten.
Und dann geschieht es, genau wie immer. Der Boden beginnt zu beben. Leicht zuerst, sodass kleine Erdklumpen und Steine um unsere Füße hüpfen, und dann, mit einem Mal, heftiger. Einige Leute können das Gleichgewicht nicht halten und fallen auf die Knie. Der Wind heult. Die Welt dreht sich. Und dann das Licht. Es schießt aus dem Himmel herab wie ein Speer, der Pergament durchdringt, mühelos und in einer fließenden Bewegung. Der Lichtstrahl wird breiter, länger und so hell, dass meine Augen davon schmerzen.
Normalerweise liege ich an diesem Punkt am Boden, schirme meine Augen vor dem Licht ab und versuche mich nicht zu übergeben. Auch jetzt ist mir übel – der Raub scheint immer diese Wirkung zu haben –, aber ich zwinge mich stehen zu bleiben. Ich konzentriere mich auf Blaine und halte den Blick auf ihn gerichtet. Trotz des grellen Lichts hat er die Augen geöffnet, aber er sieht nicht verängstigt aus. Das Licht umfließt ihn, als werde es von seinem Körper angezogen. Er ist ein leuchtendes Schauspiel, eine brennende Flamme. Dann ein letzter Erdstoß, eine gleißende Explosion, und er ist fort.
Ebenso schnell, wie das Beben gekommen ist, ist es vorüber. Menschen stehen taumelnd auf, klopfen sich den Staub ab und reiben sich erleichtert die Augen. Wir alle stöhnen und husten, während unsere Sinne sich wieder stabilisieren, und dann hallt Maudes Ruf durch die Menge.
»Lasst uns einen Moment des Schweigens einlegen«, krächzt sie mit ihrer trockenen, spröden Stimme. »Für Blaine Weathersby, der am Morgen seines achtzehnten Geburtstags geraubt worden ist.«
4. Kapitel
Blaines Verschwinden fühlt sich ähnlich an wie Mas Tod, nur dass ich dieses Mal für immer allein zurückbleibe. Während der ersten paar Tage vergesse ich ständig, dass er nicht wiederkommt. Ich ertappe mich dabei, wie ich beim Abendessen aufschaue und darauf warte, dass er durch die Tür tritt. Oder ich habe das Gefühl, dass er hinter mir durchs Haus geht. Aber wenn ich mich umdrehe, ist
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