Taken
gleich. Ich erlebte mit, wie sie sich im Lauf der Jahre veränderte und ihr magerer Körper die Formen entwickelte, über denen sich jetzt ihr Kleid spannt. Sie ist jetzt fast achtzehn und immer hübscher geworden. Solange ich denken kann, habe ich mich für niemand anderen interessiert. Ich habe meine Runden bei den Zuweisungen gemacht, aber ich mache mir nichts vor: Ich begehre nur Emma. Wahrscheinlich habe ich es verdient, dass man mich noch nie mit ihr zusammengesteckt hat. Ich bin es wohl nicht wert.
»Ist Carter da?«, rufe ich Emma zu.
»Sie macht einen Hausbesuch«, antwortet sie und erfüllt meine Hoffnungen, ohne mich auch nur anzusehen. »Lass mir einen Moment Zeit, dann komme ich sofort zu dir.«
Ich setze mich auf ein leeres Bett, reibe über mein Kinn und zucke zusammen, als meine Hände eine offene Stelle finden. Blaine hatte recht. Ich muss das unbedingt untersuchen lassen.
Während ich warte, beobachte ich Emma und bewundere ihre geschickten Hände, die mit Leichtigkeit die Krüge aus dem Regal nehmen. Sie bewegt sich sehr schnell, aber auch geschmeidig, und ihre Hände greifen selbstbewusst zu, nachdem sie jahrelang Kranke versorgt haben. Nie stocken sie oder rutschen ab. Auch ihr Blick ist konzentriert und huscht vor und zurück. Jedes Mal, wenn ich in die Tiefen ihrer braunen Augen sehe, spüre ich etwas, wie einen Ruck in der Brust.
Als schließlich die Krüge so aufgeräumt sind, wie Emma es haben will, tritt sie zu mir ans Bett. Sie hat ein Muttermal auf dem rechten Wangenknochen, das beinahe so aussieht, als laufe ihr eine einzelne Träne übers Gesicht.
»Ich sollte mich weigern, dir zu helfen. Nach dem, was du mit Chalice gemacht hast und allem.« Emmas Stimme ist weich, zart und ruhig wie der erste Schnee des Winters.
»Sie hatte es verdient«, gebe ich bestimmt zurück.
»Du hast Glück, dass ich daran glaube, dass alle verletzten Wesen es verdienen, behandelt zu werden.« Verwundert, mit seitwärts geneigtem Kopf, sieht sie mich an, als betrachte sie ein wildes Tier. Ich weiß, was sie denkt. Es ist das Gleiche, was sich alle fragen: Wie ist es möglich, dass ich Blaine so ähnlich sehe und doch ganz anders bin als er?
Sie legt die Hände um mein Gesicht und untersucht mein Kinn. Die Platzwunde brennt, aber ich konzentriere mich stattdessen auf ihre Berührung, das Gefühl, ihre Finger auf meiner Haut zu spüren. Als sie mich zu ihrer Zufriedenheit inspiziert hat, dreht sie mir den Rücken zu und beginnt in einer flachen Schale verschiedene Zutaten zu mischen. Ich sehe zu, wie sie sie zermahlt und sich die Muskeln an ihrem Unterarm und ihrer Schulter wölben. Sie beendet ihre Arbeit, wischt sich die Hände an der Schürze ab und wendet sich wieder zu mir um.
»Ein Löffelvoll müsste eigentlich reichen«, sagt sie und gibt mir die Schale, in der sich jetzt eine Art Paste befindet. »Reib damit die Innenseite deines Mundes, in der Nähe der Wunde, ein. Es wird den Bereich betäuben, und ich muss diese Wunde nähen.«
Mit den Fingern nehme ich ein wenig von der Mischung und trage sie nach Emmas Anweisung auf. Beinahe sofort lässt der Schmerz nach.
»Und nimm das«, befiehlt sie und reicht mir eine kleine Portion von etwas, von dem ich nicht weiß, was es ist. Ich schlucke es trotzdem. »Du musst ganz stillhalten, und das hier wird dir beim Einschlafen helfen.«
Emma bereitet eine Nadel vor, als ihre Mutter das Krankenhaus betritt.
»Wie war es?«, fragt Emma.
»Das Baby hat es nicht geschafft«, erklärt Carter, stellt ihre Tasche ab und steckt sich die Haare neu hoch. Ihre Farbe ist die gleiche wie bei Emmas Haaren, hellbraun wie das Fell eines Rehkitzes, und sie fallen willkürlich, in widerspenstigen Wellen. »Es ist bei der Geburt gestorben. Vielleicht ganz gut so. Es war ein Junge.«
Die Neuigkeit scheint Emma zu betrüben. »Und die Mutter?«
»Laurel geht es gut.« Ich weiß, dass dieses Mädchen eine gute Freundin von Emma ist. Auf dem Markt habe ich sie zusammen flüstern und kichern gesehen, während sie ihre Waren tauschten.
Emma stößt einen Seufzer der Erleichterung aus, aber mir fällt auf, dass eine einzige Träne über den Leberfleck unter ihrem Auge rinnt. Mit dem Handrücken wischt sie sie weg und wendet ihre Aufmerksamkeit erneut der Nadel zu.
»Leg dich zurück«, sagt sie, und ich gehorche. Mein Kopf fühlt sich merkwürdig leicht an, und Emma, die sich über mich beugt, um die Wunde zu untersuchen, scheint zu schimmern wie vom Tau feuchtes Gras in
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