Takeover
Judith hat sich in den letzten Monaten einen Überblick darüber verschafft, wer zurzeit in der Hackerszene aktiv ist. Ich glaube nicht, dass hier der große Unbekannte am Werk ist. Irgendjemand kennt ihn oder sie oder kann uns sagen, wer ihn vielleicht kennt, oder zumindest, wie er oder sie es macht. Wenn du schnell eine Lösung willst, dann komm her und setze dich mit Judith zusammen. Und natürlich kannst du unsere Technik hier benutzen .«
Ferry wusste, dass das Labor von Leo nicht nur das Neueste an Computertechnik aufwies, sondern auch Prototypen, die nie in die Produktion gegangen waren, sowie ein Sammelsurium an neuester Software, eben alles, was er benötigte, um weiterzukommen.
» Mir brennt die Sache unter den Nägeln. Ich komme morgen Abend nach der Aktionärsversammlung nach Cambridge .«
»Ich muss leider zu einer Tagung nach Seattle, aber Judith kann sich um dich kümmern. Bringe etwas Zeit mit und bleibe das Wochenende hier bei uns. Das Labor steht dir offen, du brauchst ja keinen Schlüssel. Wie du weißt, haben wir Handscanner an den Türen und dein Profil ist seit dem letzten Besuch eingespeichert .«
»Sensoren von X-SECURE?«
»Ja, wieso?«
»Eine lange Geschichte, erzähle ich dir, wenn wir beide mehr Zeit haben, und vor allem nicht am Telefon .«
»So schlimm? Wie auch immer, ich sage Judith Bescheid, dass sie dich vom Flughafen abholen soll und sich ein bisschen Zeit für dich nimmt. Ich bin gespannt, was dabei herauskommt .«
»Tausend Dank.«
»Nicht so schnell, ich gebe dir meine beste Doktorandin für das Wochenende und überlasse dir mein Institut, das kostet eine Kleinigkeit .«
Ferry musste lachen. Das war Leo, wie er ihn kannte.
»Wie viel?«
»Wir brauchen neues Equipment und der Etat für dieses Jahr ist schon ziemlich am Ende .«
»Also gut, wenn ich die Aktionärversammlung morgen überlebe, spendiere ich dir 100.000 Euro an Forschungsgeldern .«
»Ist mir eine Ehre, dich als Gast zu begrüßen und du kannst dann auch gerne noch ein paar Tage länger bleiben .«
»Ich denke, das Wochenende wird reichen. Viel Spaß in Seattle.«
3
Michael Kunze verließ um 00.30 Uhr die Gebäude von X-SECURE. Nach dem Gespräch mit Ferry Ranco war er erleichtert. Er hatte den besten Verbündeten gefunden, den er sich vorstellen konnte. Er freute sich darauf, seiner Geschäftsführung morgen früh berichten zu können, dass er mit Ferry Ranco gesprochen hatte. Wenn man bei X-SECURE das Vertrauen in ihn verloren haben sollte, könnte er morgen bestimmt etwas davon zurückholen.
Er war zwar auch etwas verunsichert, ob er die Datei, die den Hackerangriff in allen Einzelheiten dokumentierte, so einfach an Ferry hätte mailen dürfen. Vielleicht war er etwas voreilig gewesen, aber das brauchte er morgen ja erst mal nicht zu erzählen. Er hatte alle wichtigen Dokumente und Dateien auf den Laptop geladen, den er unter dem Arm trug. Damit wollte er sich zu Hause bei einem Glas Wein und etwas Musik hinsetzen, sich das Ganze in Ruhe durch den Kopf gehen lassen und dann entscheiden, was weiter zu tun war.
Michael war in seine Gedanken versunken, als er auf die Fahrbahn trat, um zu dem auf der anderen Straßenseite gelegenen Parkplatz zu gelangen. Er sah das herannahende Auto erst, als der Motor aufheulte. Sekundenbruchteile später wurde er schon von ihm erfasst und flog durch die Luft. Das Auto drehte um, fuhr zurück und hielt neben dem leblosen Körper von Michael an. Ein Mann beugte sich aus dem Auto, nahm die Laptoptasche an sich, die Michael gerade noch in der Hand gehalten hatte, und fuhr dann sofort weiter.
X-SECURE lag in einem Industriegebiet. Der Vorfall war von niemandem beobachtet worden. Erst etwa zehn Minuten später fand ein vorbeifahrender Autofahrer Michal Kunze. Der bald darauf eintreffende Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen.
Bevor Ferry sich weiter mit dem Hackerproblem beschäftigen konnte, musste er die Aktionärsversammlung überstehen. Langsam begann auch für GermanNet die Glückssträhne in geschäftlichen Dingen zu Ende zu gehen. Zur Millenniumswende hatte ein Boom die Internetbranche erfasst, aber kaum ein Jahr später war die Euphorie ins Gegenteil umgeschlagen. Die gesamte Branche war zusammengebrochen, wie eine Seifenblase geplatzt.
Im Gegensatz zu anderen Netzbetreibern stand GermanNet allerdings immer noch gut da. In den letzten vierundzwanzig Monaten waren eine ganze Reihe von neuen Netzbetreibern entstanden und wieder verschwunden. Die
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