Tal der Träume
Küchenanrichte und öffnete Mintos persönliche Schublade. Zu ihrer Überraschung war sie angefüllt mit Lebensmitteln, guten Sachen wie Tee, Zucker, Honig, Keksen, Eingemachtem, Dosen mit Bohnen und Sardinen.
Sie schlemmte wie ein Kind, goss Honig über die Kekse und häufte löffelweise Zucker in ihren Tee. Danach schloss sie alles wieder ein und rollte sich auf ihrem Bett zusammen, um sich eine Entschuldigung für den Diebstahl zu überlegen. Am Nachmittag unternahm sie tapfer einen Spaziergang im Busch hinter dem Haus, schob die feuchten Zweige beiseite und stapfte barfuß wie ein erfahrener Bushie durch das dichte Unterholz. Sie genoss die Expedition und fragte sich, wohin sie gelangen würde. Als sie einen Dingo aufschreckte, rief sie ihm etwas zu, doch er schoss davon. Scharen bunter Papageien sausten durch die Bäume, und sie entdeckte einige kräftige Eidechsen, die sie an die mögliche Gegenwart von Schlangen erinnerten. Zum Glück blieben diese im Verborgenen, und Harriet kämpfte sich weiter vor, bis sie die Rückkehr für geboten hielt.
Der Rückweg war nicht so leicht. Harriet machte sich Sorgen, denn Minto musste mittlerweile zurück sein und würde wütend werden, wenn sie niemanden antraf. Sie eilte hin und her, suchte weit über sich nach der Sonne, als könne diese ihr die Richtung weisen, doch der hohe Baldachin aus Blättern ließ nur wenig Licht durch. Sie hatte sich verirrt. Der Spaziergang im Busch hatte sich in etwas Grauenhaftes verwandelt. Ihre Arme und Füße bluteten, wo sie sich an scharfen Gräsern und spitzen Dornen verletzt hatte. Ihr einziger Rock war zerrissen, und Mintos Bluse, die sie trug, wenn gewaschen werden musste, war schweißgetränkt.
Irgendwann stolperte sie zufällig aus dem feuchten Labyrinth auf eine Lichtung und stand vor dem Haus. Ihrem kleinen Haus.
Die Sonne ging unter, die Nacht in der Wildnis war ihr gerade noch einmal erspart geblieben. Harriet sank auf die Knie, um Jesus zu danken, rannte ins Haus und rollte sich auf ihrem Bett zusammen. Nie wieder würde sie den Willen des Herrn missachten. Er wollte sie hier haben, und hier würde sie, ob mit oder ohne Minto, bleiben, bis er ihr vergab.
Lucy Hamilton betete, flehte zu Gott, er möge ihrem lieben Freund Myles Oatley helfen, der sich nach dieser schrecklichen Operation in einem kritischen Zustand befand. Dass man sein Bein wirklich amputiert hatte, begriff sie erst, als sie ihn im Krankenhausbett liegen sah. Sie hatte gehofft, die Ärzte würden im letzten Moment feststellen, dass man nur den brandigen Teil entfernen und das Bein retten konnte, aber nein, sie hatten es in der Mitte des Unterschenkels amputiert. Und nun lag er seit drei Tagen im Fieber und war kaum bei Bewusstsein.
Alle waren entsetzt, da Myles ohnehin schwach war und das Fieber ihn noch weiter schwächen würde. Insgeheim hielt Lucy die Ärzte für unfähig, wollte William aber nicht noch mehr beunruhigen und gab sich damit zufrieden, ihm Gesellschaft zu leisten und für seinen Sohn zu beten. Obwohl die Ärzte eigentlich keine Besucher im Krankenzimmer wünschten, hatte William sich unglaublich über ihre Anwesenheit gefreut. Wenigstens konnte sie seinen Platz einnehmen, so dass er für einige Stunden nach Hause gehen und sich ausruhen konnte.
Christy wurde allmählich ungeduldig, begriff einfach nicht, dass sie Myles nahe sein wollte, weil sie seit ihrer Kindheit befreundet waren. In der Stunde der Not würde sie ihn nicht verlassen. Christy beklagte sich sogar, er werde den Weihnachtsball im
Victoria Hotel
verpassen, bei dem diesmal nur geladene Gäste Zutritt hatten, worauf Lucy wütend reagierte.
»Wie kann ich jetzt ans Tanzen denken, wenn es Myles so schlecht geht? Wenn du so wild darauf bist, geh doch allein!«
Tatsächlich war er am vergangenen Abend hingegangen, doch Lucy kümmerte das nicht. Für sie war es kein Verlust, und sobald sich Myles erholt hatte, würde sie den Streit mit Christy beilegen. Doch die Angst nagte an ihr. Wenn Myles sich nun nicht erholte?
Sie saß still am Bett und fühlte sich hilflos, als sie Myles betrachtete, der reglos dalag, die Augen geschlossen, das schmale Gesicht vom Fieber gerötet. Ob er überhaupt begriff, was mit ihm geschehen war?
Ein Schauer überlief ihn. Sie griff nach seiner Hand und hielt sie sanft in der ihren. »Komm schon, Myles, du schaffst es«, flüsterte sie. »Du hast doch früher schon Fieber gehabt. Erinnerst du dich an den Schlangenbiss? Junge, ging es dir da
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