Tallinn-Verschwörung
Wie es aussah, hatte der tedesco – oder austriaco , der er in Wirklichkeit war – sich damals in das Vertrauen des späteren Kardinals geschlichen und war von diesem protegiert worden. Nachdem Rocchigiani Chef der Söhne des Hammers geworden war, hatte Winter ihm mehrere Jahre als geheimer Sekretär gedient und dabei ein Wissen über die Strukturen des Geheimbunds erworben, das ihn später dazu befähigt hatte, sich noch zu Lebzeiten des Kardinals an die Schalthebel der Macht zu setzen.
Rocchigianis Aufzeichnungen berichteten von Gesprächen, welche die beiden Männer und ein Graziella unbekannter deutscher Monsignore namens Kranz miteinander geführt hatten. Dabei war die muslimische Gefahr ihr Hauptthema gewesen. Kranz schien Winters ergebener Gefolgsmann zu sein, darauf deuteten Rocchigianis Notizen hin, und war wohl noch weniger skrupulös in der Wahl seiner Mittel.
Graziella erfuhr, dass Winter und Kranz vorgeschlagen hatten, sich der »Feinde der Feinde« zu bedienen, also rechtsextreme Gruppen anzuwerben, die in ihrem Sinne tätig werden sollten, um harte Schläge gegen die Anhänger des
Islamismus zu führen. Rocchigiani schien das Ganze lange Zeit als theoretisches Gedankenspiel angesehen zu haben, hatte aber irgendwann begriffen, dass Winter ihn durch seinen neuen Sekretär überwachen ließ. Graziella kam sofort der unsympathische Mann in Schwarz in den Sinn, der sie vom Zimmer ihres Großonkels ferngehalten hatte. Wie es aussah, hatte Rocchigiani einiges über die Umtriebe dieser Männer herausgefunden und sie aus dem Kreis der Söhne des Hammers entfernen wollen. Er hatte jedoch feststellen müssen, dass Winters Macht über den geheimen Orden bereits zu groß geworden war, und sich an den Heiligen Stuhl wenden wollen, um Winter, Kranz und deren Anhänger kaltzustellen.
Hinter dem entsprechenden Eintrag stand nur noch ein Satz: »Werde morgen früh eine Bergwanderung unternehmen und Gott im Gebet um Erleuchtung bitten – und um Verzeihung für die Blindheit, mit der ich geschlagen war.«
An diesem nächsten Tag hatte Rocchigiani den Tod gefunden, und Graziella begann zu ahnen, dass dieses scheinbare Unglück nicht so überraschend gekommen sein mochte, wie die Leute es vermuteten.
»Das muss mein Großonkel erfahren! Er wird die Wahrheit aufdecken.« Graziella sprang auf, stürmte aus ihrem Zimmer und platzte in den Aufenthaltsraum des alten Herrn. Doch sie traf ihn nicht an. Auch in seinem Studierzimmer war der Kardinal nicht zu finden. Als sie schließlich in sein Schlafgemach eindringen wollte, kam Nora aus der Küche.
»Was ist denn los, Signorina?«
»Ich muss dringend mit meinem Großonkel sprechen!«
Nora breitete hilflos die Arme aus. »Das wird so schnell nicht gehen. Seine Heiligkeit hat Seine Eminenz vor einer Stunde abholen lassen, um mit ihm zusammen ein paar Tage in Castel Gandolfo zu verbringen. Die Laune Seiner Eminenz
war nicht besonders gut, aber das können Sie sich selbst denken, Signorina. Sie wissen ja, worum es geht.«
Graziella nickte. Es handelte sich um die Emeritierung ihres Großonkels, gegen die er sich mit Händen und Füßen sträubte. Doch wenn der Papst es befahl, würde er in diese Zitrone beißen müssen. Dann dachte Graziella an das, was sie über Winter erfahren hatte, und ihr war, als stünde sie am Rande eines tiefen Abgrunds und spürte im Rücken bereits die Hand, die sie ins Verderben stoßen wollte.
II. TEIL
DIE ENTFÜHRUNG
EINS
D er Papst saß im Schatten eines Sonnenschirms auf der Terrasse und las. Als sein persönlicher Sekretär, Monsignore Giorgio, sich räusperte, blickte er auf und sah einen hochgewachsenen Mann in einer schwarzen Soutane, die mit dem Purpur eines Kardinals abgesetzt war, auf sich zukommen. Das verbindliche Lächeln, das Benedikt XVI. sonst zu eigen war, wenn er Gäste zur Privataudienz empfing, verlor sich, als er den Besucher erkannte. Kardinal Giuseppe Antonio Monteleone war einst ein guter Freund und enger Mitarbeiter gewesen, doch seit einigen Jahren betätigte er sich als einer seiner schärfsten Kritiker. Doch nicht aus diesem Grund hatte Benedikt XVI. ihn zu sich gerufen, sondern um mit ihm über die leidige Sache seines Rücktritts zu sprechen. Da er den aufbrausenden Kardinal nicht demütigen wollte, hatte er ihn in seine Sommerresidenz eingeladen. Hier sollte die Angelegenheit für beide Seiten leichter zu regeln sein als in Rom, denn hier fand nicht jedes gesprochene Wort gleich ein Dutzend Mithörer.
Während
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