Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
zu erkennen, aber als sie sich näherte, sah sie, dass er im Leben noch jung, wohlgenährt und kein Arbeiter gewesen war.
Sie zügelte ihr Pferd. Ein großes › V ‹ für Verräter prangte als Brandmal mitten auf der Brust des toten Mannes. Unangenehme Erinnerungen über Agnalain regten sich in ihrem Herzen. Einst war diese Straße mit solchen Anblicken gesäumt gewesen. Iya wollte gerade weiterreiten, als der Wind den Körper erneut erfasste und herumdrehte, sodass sie einen Blick auf die Handflächen des Mannes erhaschte. Beide bedeckte ein Kreis schwarzer Muster.
Der arme Bursche war ein Novize im Tempel Illiors gewesen.
Zauberer und Priester, dachte sie verbittert. Die Spürhunde jagen die Kinder Illiors selbst vor den Toren der Hauptstadt und hängen sie zur Schau, wie es ein Bauer mit einer toten Krähe tun würde.
Sie vollführte ein Segenszeichen und flüsterte ein Gebet für den Geist des jungen Priesters, doch als sie weiterritt, suchten sie Bruders Abschiedsworte an sie heim.
Du wirst nicht eindringen.
Iya stählte sich, als sie sich den Wachen am Tor näherte, da sie eine Herausforderung oder einen Aufschrei erwartete, doch beides blieb aus.
Sie nahm sich ein Zimmer in einer bescheidenen Herberge nahe des oberen Marktes und verbrachte die nächsten Tage damit, sich in dem Versuch umzuhören, die Stimmung des Volkes auszuloten. Dabei achtete sie sorgsam darauf, jeden zu meiden, der sie erkennen konnte, Adelige und Zauberer gleichermaßen.
Prinz Korin und seine Gefährten galten als verbreiteter Anblick in der Stadt. Sie galoppierten regelmäßig mit ihren Wachen und Knappen umher. Mittlerweile war Korin ein strammer, kräftiger Bursche von dreizehn Jahren, ein junges Ebenbild seines Vaters mit rötlich dunklen Zügen und vergnügten Augen. Als Iya ihn das erste Mal vorbeireiten sah, verspürte sie einen Anflug von Bedauern; falls Tobin war, wer er zu sein schien, und wenn ein besserer Herrscher auf dem Thron säße, käme er bald in ein Alter, in dem er seinen Platz in dieser fröhlichen Gruppe beanspruchen könnte, statt mit dem unerwünschten Balg eines landbesitzlosen Ritters als einzigem Gefährten versteckt zu werden. Mit einem Seufzen verdrängte sie derlei Gedanken und beschloss, sich dem zu widmen, wofür sie hergekommen war.
Jahre mit in regelmäßigen Abständen auftretenden Dürren und Krankheiten hatten sogar in der Hauptstadt ihre Spuren hinterlassen. Das Geflecht der Wohnhäuser, das die Innenstadt umringte, erwies sich als deutlich geringer bevölkert. Viele Türen waren immer noch vernagelt und trugen die Bleikreise, die verwendet wurden, um Pesthäuser zu kennzeichnen, die Nachwehen des Ausbruchs der Seuche im vergangenen Sommer. Ein Haus in der Schafskopfstraße war niedergebrannt worden; die Anmerkung › Seuchenquelle ‹ prangte noch gekritzelt an einer verkohlten Wand.
In den wohlhabenderen Vierteln auf dem Hügel wurden solche Überbleibsel für gewöhnlich beseitigt, sobald die Seuche überstanden und die Leichname verbrannt waren, doch auch dort waren zahlreiche feine Häuser und Geschäfte mit Brettern vernagelt. Unkraut, das an den Eingängen wucherte, verriet, dass es in den Gebäuden niemanden mehr gab, der sich um sie kümmern konnte.
Eine eigenartige, krankhaft anmutende Fröhlichkeit herrschte im Gefolge des Todes. Die Kleider der Reichen waren bunter gefärbt und mit gemusterten Säumen und Juwelen noch knalliger gestaltet als üblich. Viele Trauernde hatten sich die Abbilder ihrer verlorenen Lieben mit gefühlsseligen Reimen darunter auf die Mäntel oder Röcke sticken lassen. Ärmel, Mützen und Umhänge wurden sogar von der Händlerschicht reich verziert und übertrieben lang getragen.
Die sonderbare Überspanntheit beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Mode. Jede Maskenspieler-, Pantomimen- und Puppenspielergruppe, die auf den Straßen ihrem Geschäft nachgingen, hatten eine schillernde neue Gestalt im Repertoire – den Roten und Schwarzen Tod. Rote Bänder flatterten knallig von der Maske und vom Gewand dieser Figur, um das Blut darzustellen, das wie Schweiß durch die Haut der Befallenen drang und in den Todeswehen aus ihren Mündern und Nasen strömte. Außerdem wies sie einen übertriebenen, schwarzen Hosenlatz und ebenso gestaltete Armbinden auf, mit denen die dunklen Pusteln nachgeahmt werden sollten, die im Schritt und in den Achselhöhlen anschwollen. Die Mitspieler vergnügten sich damit, den Prahlhans zu misshandeln, und setzten
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