Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
Thron zu dienen hätten.
Die Spürhunde mochten ihre Zahlen als Werkzeug der Überwachung oder Schande gedacht haben, doch für Iya wirkten sie als Aufruf zum Kampf.
K APITEL 27
Der Burgweiler Atyion beherrschte die fruchtbare Ebene nördlich von Ero. Die Burg selbst war im Knie einer Flussschleife des gewundenen Heron mit Sicht auf das Innere Meer errichtet worden. Die beiden riesigen, runden Türme der Feste waren meilenweit zu sehen und konnten in Zeiten einer Belagerung mühelos über tausend Männer beherbergen.
Herzog Rhius’ Familie hatte den Ort durch Krieg und Ehren erlangt, ihr beträchtlicher Reichtum jedoch spross aus den vielen Morgen Weingärten, Wäldern und üppigen, gut bewässerten Pferdeweiden, die sich über die Ebene zogen. Was einst ein unscheinbares Dorf gewesen war, schmiegte sich in den schützenden Schatten der Feste und war zu einer blühenden Marktgemeinde gewachsen. Die wenigen Pestkennzeichnungen im Ort waren weiß verwittert; Atyion war seit einem Jahrzehnt nicht mehr von der Seuche heimgesucht worden.
Seit Tobins Geburt.
Iya ritt durch die schlammigen Straßen und über die herabgelassene Zugbrücke, die sich über den Burggraben spannte. Innerhalb der Außenmauern lag weiteres Land, genug für stattliche Herden und reihenweise Kasernen und Stallungen für die Armeen des Herzogs. Viele der Gebäude standen an diesem Tag leer; die verbündeten Fürsten und Vasallen des Herzogs waren nach Hause zurückgekehrt, um sich um ihre eigenen Ländereien zu kümmern.
Die verbliebenen Soldaten frönten Müßiggang, führten Waffenübungen durch oder lungerten an den Pferchen herum. Waffen- und Hufschmiede arbeiteten geräuschvoll an ihren qualmenden Essen entlang der Innenmauer. Ein paar Sattler saßen unter einer Markise, schnitten Leder und richteten Geschirr. Aus Achtung vor dem König hatte Rhius keine Soldatinnen in den Rängen seiner Garde, allerdings gab es im Haushalt der Feste einige Frauen, die einst seinem Vater mit Schwert und Bogen gedient hatten. Auch Köchin, die nun in der anderen Feste weilte, zählte zu ihnen. Sie alle wussten immer noch, wie man kämpfte, und würden es mit Freuden tun, erhielten sie den Befehl dazu.
Iya ließ ihr Pferd bei einem Stallknecht und eilte die breite Treppe hinauf zur Bogenpforte, die zur Haupthalle führte. Den Eingang säumten Säulenreihen, die einen weiteren, spitzen Bogen stützten. Ein bemaltes Relief des Wolkenauges Illiors hatte seit der Errichtung von Atyion den Scheitel dieses Bogens geziert, doch an diesem Tag sah Iya, dass eine geschnitzte Eichenholztäfelung darüber angebracht worden war. Darauf prangte eines der kriegerischeren Symbole Sakors: eine behandschuhte Faust, die ein flammendes, mit Lorbeer und Weinkraut geschmücktes Schwert hielt. Die Täfelung war von einem meisterlichen Handwerker eingepasst worden; jemand, der das Haus nicht kannte, könnte niemals erahnen, dass sich darunter ein anders Bildnis verbarg.
Es ist wie mit der Brosche, dachte Iya zugleich traurig und zornig. Wie konnte es nur so weit kommen, dass wir die Götter selbst gegeneinander ausspielen?
Ein greiser Mann mit einem Spitzbauch unter der blauen Livree begrüßte sie in der Halle.
»Wie lange bewacht Sakor den Eingang schon, Harkone?«, erkundigte sie sich, als sie ihm ihren Mantel reichte.
»Fast neun Jahre, Herrin«, antwortete der Hausdiener. »Er war ein Geschenk des Königs.«
»Ich verstehe. Ist der Herzog heute zu Hause?«
»Ja, gnädige Frau. Er ist in der offenen Galerie. Ich führe Euch zu ihm.«
Während sie durch die große, gewölbte Halle und eine Reihe von Räumen und inneren Galerien gingen, sah sich Iya um. Atyion war immer noch prachtvoll, allerdings wirkte der Glanz des Hauses abgestumpft, als erfülle das Bauwerk dieselbe gedrückte Stimmung wie dessen Herrn. Ein paar Bedienstete polierten und schrubbten, aber die Einrichtung und die Behänge, sogar die bunt bemalten Wände, wirkten blasser, als Iya sie in Erinnerung hatte.
Früher gab es hier Musik und Gelächter, dachte sie, und Kinder, die durch die Halle rannten.
»Geht es Fürst Rhius gut?«
»Er trauert, gnädige Frau.«
Sie fanden Rhius, wie er durch eine Säulengalerie spazierte, die auf die Burggärten wies. Nach seinem Wams und den staubigen Lederstiefeln zu urteilen, hatte er den Tag im Sattel verbracht und war erst kürzlich zurückgekehrt. Ein junger Page tapste unbeachtet hinter ihm drein.
Als Junge war Rhius Iya stets entgegengerannt, um sie zu
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