Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
Nässe.
Nari ergriff das von Sarilla gebrachte Tuch und wischte Tobin damit die Finger und die Wange ab. Danach prangten Blutschlieren auf dem Tuch.
»Könnte es einer der Hunde gewesen sein, Tobin? Vielleicht hat einer im Heuschober geschlafen«, meinte Mynir angespannt. Hunde konnten Tobin nicht leiden; sie knurrten ihn an und wichen vor ihm zurück. Mittlerweile hielten sich in der Feste nur noch ein paar alte Köter auf, die Nari nicht ins Haus ließ.
»Das ist kein Hundebiss«, flüsterte Sarilla. »Schaut nur, man sieht …«
»Es war der Dämon!«, schrie Tobin. Das Mondlicht hatte ausgereicht, um zu erkennen, dass sich hinter dem Heuschober nichts bei ihm befunden hatte, was einen festen Körper besaß. »Er hat mich zu Boden gestoßen und gebissen!«
»Schon gut«, sagte Nari beschwichtigend, drehte das Tuch auf die saubere Seite um und tupfte seine Tränen ab. »Schon gut. Wir reden morgen früh darüber. Komm, wir gehen jetzt ins Bett, und Nari wird den gemeinen Dämon fernhalten.«
Tobin konnte hören, dass die anderen immer noch untereinander tuschelten, als Nari ihn zur Treppe führte.
»Es stimmt, was man munkelt«, flüsterte Sarilla in weinerlichem Tonfall. »Wen sonst greift er so an? Er ist verflucht geboren!«
»Das reicht jetzt, Mädchen«, zischte Mynir. »Da draußen wartet eine lange, einsame Straße auf jene, die ihren Mund nicht halten können.«
Tobin schauderte. Also tuschelten die Leute sogar hier.
Mit Nari neben ihm schlief er tief und fest. Er erwachte alleine, aber ordentlich zugedeckt, und der Winkel der durch die Läden einfallenden Sonne verriet ihm, dass es bereits Mitte des Vormittags sein musste.
Enttäuschung fegte all den Schrecken der vergangenen Nacht hinweg. Bei Sonnenaufgang am Sakor-Tag weckten Mynir und er sonst immer den Haushalt im neuen Jahr, indem sie auf den Schildgong neben dem Schrein schlugen. Der Verwalter musste es dieses Jahr ohne ihn getan haben, und Tobin hatte es nicht einmal gehört.
Barfuß lief er über den kalten Boden zu dem kleinen Bronzespiegel über seinem Waschbecken und begutachtete seine Wange. Ja, da war das Mal; eine Doppellinie rötlicher Zahnabdrücke, gekrümmt wie der Umriss eines Auges. Tobin biss sich gerade so fest in den Unterarm, um einen Abdruck in der Haut zu hinterlassen, und sah, dass die beiden Male einander stark ähnelten. Abermals blickte Tobin in den Spiegel, starrte in seine blauen Augen und fragte sich, was für einen unsichtbaren Körper der Dämon besitzen mochte. Bisher hatte er ihn nur als dunklen Schemen wahrgenommen, den er manchmal aus dem Augenwinkel sehen konnte. Nun stellte er ihn sich als einen der Kobolde aus Naris Gutenachtgeschichten vor – als einen jener, die ihr zufolge wie ein in einem Feuer gerösteter Knabe aussahen. Einen Kobold mit Zähnen wie den seinen. War dies das Geschöpf, das sich ständig an den Rändern seiner Welt herumdrückte?
Beunruhigt sah sich Tobin im Zimmer um und vollführte dreimal das Schutzzeichen, bevor er sich mutig genug fühlte, sich anzuziehen.
Er saß gerade auf dem Bett und verschnürte die Lederriemen über seine Hosenbeine, als er hörte, wie sich der Riegel der Tür hob. Tobin schaute auf und erwartete Nari.
Stattdessen stand seine Mutter mit der Puppe im Eingang. »Ich habe gehört, wie sich Mynir und Köchin darüber unterhalten haben, was letzte Nacht geschehen ist«, sprach sie leise. »Du hast an diesem Sakor-Tag lange geschlafen.«
Es war das erste Mal seit über einem Jahr, dass beide alleine waren. Seit jenem Tag im Turm.
Tobin konnte sich nicht bewegen. Er saß nur da und starrte sie an, während sich der Lederriemen in seine Finger einschnitt, sie auf ihn zukam und die Hand ausstreckte, um seine Wange zu berühren.
An diesem Tag trug sie das Haar gekämmt und geflochten. Ihr Kleid war sauber, und sie roch leicht nach Blumen. Ihre Finger fühlten sich kühl und zärtlich an, als sie ihm das Haar zurückstrich und das geschwollene Fleisch rings um den Biss betastete. An diesem Tag konnte Tobin keine Schatten in ihren Zügen erkennen. Sie sah nur traurig aus. Seine Mutter legte die Puppe auf das Bett, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf die Stirn.
»Es tut mir so leid«, murmelte sie. Dann schob sie seinen Ärmel zurück und küsste das Weisheitsmal auf seinem Unterarm. »Wir leben in einem unheilvollen Traum, du und ich. Ich muss mich besser um dich kümmern, mein kleiner Liebling. Was haben wir schon außer
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