Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
tauchte lediglich den Federkiel erneut in die Tinte und schrieb weiter.
»Ich konnte mit den Händen alles formen, aber ich konnte weder schreiben, noch lesen. Mein Vater – dein Großvater, der fünfte Königinnengemahl Tanaris – hat mir gezeigt, wie ich meiner Hand die Formen beibringen konnte, genau so, wie ich es jetzt dir zeige.«
»Ich habe einen Großvater? Werde ich ihn eines Tages kennen lernen?«
»Nein, mein Liebling, deine Großmama hat ihn vor Jahren vergiftet«, erwiderte seine Mutter, während sie emsig weiterschrieb. Nach einer Weile drehte sie das Blatt zu ihm um. »So, hier, eine neue Reihe für dich zum Nachziehen.«
Sie verbrachten den restlichen Vormittag über den Pergamenten. Als er das Nachziehen beherrschte, ließ sie ihn den Laut jedes Buchstabens aussprechen, während er ihn nachahmte. Immer und immer wieder fuhr er nach und versuchte es selbst, bis er durch das schiere Auswendiglernen zu verstehen begann. Als ihnen Nari die Mittagsmahlzeit auf einem Tablett heraufbrachte, hatte Tobin das eigenartige Los seines Großvaters völlig vergessen.
Von diesem Tag an verbrachten sie jeden Vormittag so. Seine Mutter arbeitete mit überraschender Geduld daran, ihm die Buchstaben beizubringen, die sich ihm zuvor hoffnungslos entzogen hatten. Und nach und nach begann er zu lernen.
Herzog Rhius blieb den Rest des Winters fort und kämpfte in Mycena an der Seite des Königs. Seine Briefe quollen über vor Beschreibungen der Gefechte, die er als Übung für Tobin verfasste. Manchmal schickte er mit den Briefen Geschenke, Trophäen vom Schlachtfeld: einen feindlichen Dolch mit einer um das Heft geschnitzten Schlange, einen Silberring, ein Säckchen mit Spielsteinen, einen winzigen, aus Bernstein gefertigten Frosch. Einmal brachte ein Bote Tobin einen verbeulten Helm mit einer Zier aus purpurnem Rosshaar.
Tobin reihte die kleineren Schätze auf einer Ablage im Spielzimmer auf und fragte sich, welche Menschen sie besessen hatten. Den Helm brachte er an der Rückenlehne eines mit einem Mantel verhüllten Stuhls an und bestritt mit seinem Holzschwert Zweikämpfe gegen ihn. Manchmal stellte er sich dabei vor, neben seinem Vater und dem König zu kämpfen. Andere Male wurde aus dem Stuhlsoldaten sein Knappe, und gemeinsam führten sie eigene Armeen an.
Nach solchen Spielen verspürte er Sehnsucht nach dem Vater, doch er wusste, dass er eines Tages an seiner Seite kämpfen würde, wie sein Vater es ihm versprochen hatte.
Im Verlauf der letzten grauen Wochen des Winters begann Tobin, die Gesellschaft seiner Mutter wirklich zu genießen. Zuerst trafen sie sich nach seinem morgendlichen Ausritt mit Mynir in der Halle. Ein paar Mal begleitete sie die beiden sogar, und Tobin erstaunte, wie sicher sie rittlings im Sattel saß, während das lange Haar wie ein schwarzes Seidenbanner offen hinter ihr herwallte.
Doch trotz der Besserung ihres Verhaltens gegenüber Tobin änderte sich an ihrer Haltung gegenüber den anderen Mitgliedern des Haushalts nichts. Mit Mynir sprach sie selten, mit Nari so gut wie nie. Die neue Frau, Tyra, kümmerte sich um sie und verhielt sich auch Tobin gegenüber freundlich, bis der Dämon sie die Treppe hinunterstieß, woraufhin sie die Feste verließ, ohne auch nur Lebewohl zu sagen. Danach fanden sie ohne eine Magd das Auslangen.
Als am enttäuschendsten jedoch empfand Tobin ihre unveränderte Kälte gegenüber seinem Vater. Sie redete nie von ihm, verschmähte jegliche Geschenke, die er ihr sandte, und verließ die Halle, wenn Mynir abends am Kamin Tobin Briefe von ihm vorlas. Niemand konnte ihm sagen, weshalb sie ihn derart zu hassen schien, und er wagte nicht, seine Mutter selbst zu fragen. Dennoch keimte in Tobin Hoffnung. Wenn sein Vater nach Hause käme und sähe, wie viel besser es ihr ging, würden sich die Dinge zwischen ihnen vielleicht entspannen. Schließlich hatte sie auch gelernt, Tobin zu lieben. Wenn er nachts im Bett lag, malte er sich aus, wie sie zu dritt den Gebirgspfad entlangritten, sie alle lächelnd.
K APITEL 9
Eines Morgens am Ende des Klesin waren Tobin und seine Mutter gerade mit seinem Unterricht beschäftigt, als sie hörten, wie sich ein Reiter im Galopp der Feste näherte.
Tobin rannte in der Hoffnung zum Fenster, endlich seinen Vater auf dem Heimweg zu erblicken. Seine Mutter folgte ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Ich kenne dieses Pferd nicht«, sagte Tobin und schirmte mit der Hand die Augen ab. Der Reiter hatte sich
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