Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
gekrönt, nackt von einem Galgen baumelnd, bekränzt durch breite, unvertraute Straßen reitend. Nun konnte Iya sie deutlich sehen, ihr Antlitz, ihre blauen Augen, das schwarze Haar und die langen Glieder, allesamt Ariani so ähnlich. Doch es war nicht die Prinzessin.
Die Stimme des Orakels durchschnitt den Sog. »Dies ist deine Königin, Zauberin, die wahre Tochter des Thelátimos. Sie wird das Gesicht nach Westen wenden.«
Plötzlich spürte Iya, wie ihr ein Bündel in die Arme gedrückt wurde, und sie blickte hinab auf den toten Säugling, den das Orakel ihr gereicht hatte.
»Auch andere sehen es, aber nur durch Rauch und Finsternis«, fuhr das Orakel fort. »Durch den Willen Illiors gelangte die Schale in deine Hände; sie ist die lange Bürde deines Geschlechts, Hüterin, und die bitterste von allen. Doch in dieser Generation wird das Kind geboren, das die Grundfesten all dessen verkörpert, was kommen wird. Sie ist dein Vermächtnis. Zwei Kinder, eine Königin, gezeichnet mit dem Blut des Übergangs.«
Der tote Säugling schaute mit schwarzen, blicklos star renden Augen zu Iya auf, und ein sengender Schmerz zuck te durch ihre Brust. Sie wusste, wessen Kind dies war.
Dann verschwand die Erscheinung; sie fand sich kniend vor dem Orakel wieder und hielt den ungeöffneten Beutel in den Händen. Es gab kein totes Kind, kein Blut auf dem Boden. Das Orakel saß auf seinem Stuhl, mit unbeflecktem Kleid und Haar.
»Zwei Kinder, eine Königin«, flüsterte das Orakel und sah Iya mit den strahlend weißen Augen Illiors an.
Iya erzitterte vor jenem Blick und versuchte, alles festzuhalten, was sie gesehen und gehört hatte. »Die anderen, die von diesem Kind träumen – wollen sie ihm Gutes oder Böses? Werden sie mir helfen, es aufzuziehen?«
Doch der Gott war verschwunden; das Mädchen sackte auf dem Stuhl zusammen und hatte keine Antworten mehr zu bieten.
Sonnenlicht blendete Iya, als sie die Höhle verließ. Die Hitze verschlug ihr den Atem, und ihre Beine wollten sie nicht tragen. Arkoniel fing sie auf, als sie an der Steineinfriedung zusammensackte. »Iya, was ist geschehen? Was ist mit dir?«
»Lass – lass mir nur einen Augenblick Zeit«, krächzte sie und drückte sich den Beutel an die Brust.
Eine mit Blut gegossene Saat.
Arkoniel hob sie mühelos auf und trug sie in den Schatten. Er setzte ihr den Wasserbeutel an die Lippen, und Iya trank auf ihren Schüler gestützt. Es dauerte eine Weile, bis sie sich kräftig genug fühlte, den Rückweg zur Herberge anzutreten. Arkoniel ließ den ganzen Weg einen Arm um ihre Hüfte geschlungen, und sie duldete seine Hilfe ohne Widerspruch. Sie befanden sich in Sichtweite der Säule, als sie die Besinnung verlor.
Als sie die Augen wieder aufschlug, lag sie in einem weichen Bett in einem kühlen, düsteren Zimmer der Herberge. Sonnenlicht zwängte sich durch einen Spalt im staubigen Fensterladen und warf Schatten an die aus dem Fels gehauene Wand neben dem Bett. Arkoniel saß unverkennbar besorgt neben ihr.
»Was ist beim Orakel geschehen«, verlangte er zu erfahren.
Illior sprach zu mir, und meine Frage wurde beantwortet, dachte Iya verbittert. Oh, wie ich wünschte, ich hätte auf Agazhar gehört.
Sie ergriff seine Hand. »Später, wenn ich mich stärker fühle. Erzähl mir davon, was du gesehen hast. Wurde deine Frage beantwortet?«
Offenbar enttäuschte ihn ihre Erwiderung, doch er war klug genug, sie nicht zu bedrängen. »Ich bin nicht sicher«, gab er stattdessen zurück. »Ich habe gefragt, was für ein Zauberer ich werden würde, welcher Pfad mir bevorstünde. Das Orakel zeigte mir eine Erscheinung in der Luft, aber ich konnte nur ein Bild von mir erkennen, in dem ich einen jungen Knaben in den Armen hielt.«
»Hatte er blondes Haar?«, fragte sie eingedenk des Kindes in dem wunderschönen weißen Turm.
»Nein, es war schwarz. Um ehrlich zu sein, war ich enttäuscht darüber, den ganzen Weg nur dafür zurückgelegt zu haben. Ich muss beim Stellen der Frage etwas falsch gemacht haben.«
»Manchmal muss man warten, bis sich die Bedeutung offenbart.« Iya wandte sich von jenem ernsten, jungen Gesicht ab und wünschte, der Lichtträger hätte ihr einen solchen Aufschub gewährt. Draußen vor dem Fenster schien immer noch die Sonne auf den Platz, doch Iya sah nur die Straße zurück nach Ero vor sich, und an ihrem Ende wartete Dunkelheit.
K APITEL 2
Ein roter Vollmond verwandelte in jener neunzehnten Nacht des Erasin die schlafende Hauptstadt
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