Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
war; in diesen unsicheren Zeiten verkörperte jedes Mädchen, in dessen Adern Ghërilains Blut floss, eine Bedrohung für die neue, männliche Erb folge, sollten die Anhänger Illiors dafür eintreten, die geheiligte Befehlsgewalt Afras wieder herzustellen.
Mit jedem neuen Ausbruch einer Seuche oder Hungersnot wurde das Tuscheln der Zweifler an der neuen Ordnung lauter.
In einer düsteren Seitengasse außerhalb des Tors zum Palatinkreis umhüllte Iya sich selbst und Lhel mit Unsichtbarkeit, und Arkoniel näherte sich den Wachen, als wäre er allein.
Um diese Zeit waren noch zahlreiche Menschen unterwegs, doch dem befehlshabenden Unteroffizier fiel das Silberamulett auf, das Arkoniel trug, weshalb er ihn beiseite rief. »Was willst du so spät noch hier, Zauberer?«
»Ich werde erwartet. Ich bin hier, um meinen Schirmherrn zu besuchen, Herzog Rhius.«
»Dein Name?«
»Arkoniel von Rhemair.«
Ein Schriftführer hielt dies auf einer Wachstafel fest, und Arkoniel schlenderte weiter in das Gewirr aus Häusern und Gärten auf jener Seite des Palatinkreises. Rechter Hand ragte die beeindruckende Masse des Neuen Palasts auf, den Königin Agnalain begonnen hatte und den ihr Sohn fertig stellte. Links befand sich der weitläufige Bau des Alten Palasts.
Iyas Zauber war so stark, dass selbst Arkoniel nicht zu sagen vermochte, ob sie und die Hexe sich noch bei ihm befanden, doch er wagte nicht, sich umzudrehen oder ihnen zuzuflüstern.
Arianis feines Haus war von eigenen Mauern und Höfen umgeben; Arkoniel betrat das Anwesen durch das vordere Tor und verriegelte es hinter sich, sobald er Iyas Berührung am Arm spürte. Unruhig sah er sich um, halb in der Erwartung, hinter den kahlen Bäumen und den Statuen im schattigen Garten könnten die Garde des Königs oder die vertrauten Gesichter der Leibgarde des Herzogs lauern. Doch es war niemand zu sehen, nicht einmal ein Wächter oder Träger. Im Garten herrschte Stille. Die Luft erfüllte der durchdringende Duft einiger letzter, hartnäckiger Herbstblüten.
Iya und die Hexe erschienen neben ihm. Zusammen überquerten sie den Hof und hielten auf den Eingangsbogen zu. Sie hatten noch keine drei Schritte zurückgelegt, als ein Uhu herabstieß und sich kaum drei Meter von ihnen entfernt auf eine junge Ratte stürzte. Mit den Flügeln schlagend, um das Gleichgewicht zu halten, tötete das Tier den quiekenden Nager, dann schaute es mit Augen gleich Goldmünzen zu ihnen auf. Solche Vögel galten keineswegs als ungewöhnlich in der Stadt, dennoch verspürte Arkoniel einen Anflug von Ehrfurcht, zumal Eulen als Boten Illiors galten.
»Ein gutes Omen«, murmelte Iya, als sich der Uhu wieder in die Lüfte erhob und die tote Ratte zurückließ.
Der Verwalter des Herzogs, Mynir, öffnete auf ihr Klopfen hin die Tür. Der dürre, ernste und gebückte alte Bursche hatte Arkoniel schon immer an eine Grille erinnert. Er war einer der wenigen, die in den bevorstehenden Jahren dabei helfen würden, die Bürde seines Herrn zu tragen.
»Der Schöpferin sei Dank!«, flüsterte der Greis und ergriff Iyas Hand. »Der Herzog ist bereits halb von Sinnen vor Sorge …« Mitten im Satz verstummte er beim Anblick Lhels.
Arkoniel erahnte die Gedanken des Mannes: eine schmutzige Hexe, eine Vertraute des Todes, eine Totenbeschwörerin, die Dämonen und Geister anrufen würde.
Iya berührte ihn an der Schulter. »Schon gut, Mynir, dein Herr weiß Bescheid. Wo ist er?«
»Oben, Herrin. Ich hole ihn.«
Iya hielt ihn noch kurz zurück. »Und Hauptmann Tharin?« Tharin, der Adelige, der Rhius’ Garde befehligte, wich selten von der Seite des Herzogs. Ihn hatte Illior nicht erwähnt, aber Iya und Rhius hatten noch nicht besprochen, wie er von ihrem Treiben in dieser Nacht ferngehalten werden sollte.
»Der Herzog hat ihn und die Männer nach Atyion entsandt, um dort die Pachten einzutreiben.« Mynir führte sie in den dunklen Audienzsaal. »Die Frauen wurden allesamt zum Schlafen in den Palast geschickt, um die Prinzessin nicht bei der Niederkunft zu stören. Heute Nacht sind nur Eure Nari und ich selbst hier, Herrin. Ich hole jetzt den Herzog.« Damit eilte er die gewundene Treppe hinauf.
Im großen Kamin auf der gegenüberliegenden Seite des Saals brannte ein Feuer, aber es waren keine Lampen angezündet worden. Langsam drehte sich Arkoniel herum und versuchte, die vertrauten Formen von Möbeln und Wandbehängen auszumachen. Dieses Haus hatte stets vor Musik und Heiterkeit gestrotzt. An jenem
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