Tangenten
langsam auf Letitia zu, erzitterten, wurden starr.
»Nicht du!« schrie Letitia und bemerkte den Aufruhr unter den Zuschauern kaum. »Bitte, Gott, laß mich es sein, nicht sie!«
Fayette wich zurück, und Miss Darcy erschien im Licht, ergriff Letitias Schulter. Sie schüttelte sie ab.
»Nicht sie«, schluchzte Letitia. Die Mediziner erschienen und stellten sich im Kreis um Reena, blockierten sie vor den Augen der Umherstehenden. Miss Darcy stieß ihre Schüler entschlossen, beinahe brutal von der Bühne und trieb sie in das grüne Zimmer. Ihr Gesicht war reglos wie eine Maske, ihre Augen wirkten starr in ihrer Blässe.
»Wir müssen etwas tun!« sagte Letitia mit flehend erhobenen Händen.
»Fasse dich erst einmal«, sagte Miss Darcy scharf. »Es wird bereits alles getan, was getan werden kann.«
Fayette sagte: »Was ist mit der Aufführung?«
Alle starrten ihn an.
»Es tut mir leid«, sagte er mit zitternden Lippen. »Ich bin ein Idiot.«
Jane, Donald und Roald kamen in das grüne Zimmer. Letitia umarmte mit fest geschlossenen Augen wild ihre Mutter und vergrub ihr Gesicht an Janes Schulter. Sie begleiteten sie nach draußen, wo immer noch einige Schüler mit ihren Eltern umherliefen. »Wir sollten heimgehen«, sagte Jane.
»Wir müssen hierbleiben und herausfinden, ob es ihr gutgeht.« Letitia stieß sich von Janes Arm ab und blickte auf die Leute. »Sie sind so verängstigt. Ich weiß es. Sie hatte auch Angst. Ich habe sie gesehen. Sie sagte mir…« Ihre Stimme versagte. »Sie sagte mir…«
»Wir bleiben noch eine Weile«, sagte ihr Vater. Er verschwand, um mit einem anderen Mann zu sprechen. Sie unterhielten sich eine Zeit lang. Der Mann schüttelte den Kopf, und sie gingen auseinander. Roald stand mit den Händen in den Taschen abseits, erschreckt, jung, unbehaglich.
»In Ordnung«, sagte Donald einige Minuten später. »Heute abend finden wir nichts mehr heraus. Laßt uns nach Hause gehen.«
Diesmal protestierte sie nicht. Daheim schloß sie sich in ihr Zimmer ein. Sie mußte es nicht erfahren. Sie hatte gesehen, was passiert war; alles andere war Selbsttäuschung.
Eine Stunde später kam ihr Vater an die Tür und klopfte leise. Letitia fuhr aus einem unruhigen Dösen auf, erhob sich vom Bett und ließ ihn ein.
»Es tut uns so leid«, sagte er.
»Danke«, murmelte sie und kehrte zum Bett zurück. Er setzte sich neben sie. Sie mochte wieder acht oder neun Jahre alt sein; sie blickte durch den Raum zu den Spielsachen, den Büchern, den Kinkerlitzchen.
»Deine Lehrerin, Miss Darcy, hat angerufen. Sie sagte, wir sollen dir ausrichten, Reena Cathcart sei gestorben. Sie war bereits tot, als sie in der Klinik ankamen. Deine Mutter und ich haben die Vids gesehen. Fast alle Kinder sind jetzt krank. Viele sind gestorben.« Er berührte sie, tätschelte zärtlich ihren Kopf. »Ich denke, du weißt nun, warum wir ein natürliches Kind wollten. Es gab Risiken…«
»Es ist nicht fair«, sagte sie. »Ihr hattet uns nicht…« – sie schluckte – »… auf diese Weise, weil ihr an die Risiken gedacht habt. Ihr redet, als wäre etwas nicht in Ordnung mit diesen… Menschen.«
»Ist es nicht?« fragte Donald mit plötzlich hart gewordenen Augen. »Sie sind fehlerhaft.«
»Sie sind meine Freunde!« schrie Letitia.
»Bitte«, sagte Donald zurückweichend.
Sie kniete sich aufs Bett; wieder kamen die Tränen. »Es ist nichts Falsches an ihnen! Sie sind Menschen! Sie sind nur krank, daß ist alles.«
»Das macht keinen Sinn«, sagte Donald.
»Ich habe mit ihr geredet«, sagte Letitia. »Sie muß es gewußt haben. Du kannst nicht einfach sagen, etwas ist falsch mit ihnen. Das reicht nicht.«
»Ihre Eltern hätten es wissen müssen«, fuhr Donald mit erhobener Stimme fort. »Letitia…«
»Laß mich bitte in Ruhe«, verlangte sie. Er stand hastig auf, verwirrt, und ging hinaus, wobei er die Tür hinter sich schloß. Sie legte sich aufs Bett zurück und fragte sich, was Reena wollte, was sie sagte und zu wem.
»Ich werde es tun«, flüsterte sie.
Das Frühstück am Morgen verlief ruhig. Roald aß sein Müsli mit Vorsicht, blickte die anderen mit großen, betroffenen Augen an. Letitia aß wenig, stieß sich vom Tisch ab und sagte: »Ich gehe zur Beerdigung.«
»Wir wissen nicht…« sagte Jane.
»Ich gehe.«
Letitia ging lediglich zu Reenas Beerdigung. Mit einem verwirrten Ausdruck beobachtete sie Reenas Eltern über das Grab hinweg und verglich sie mit Jane und Donald. Sie weinte nicht.
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