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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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in ihren Strohhalm, bekam Luftblasen in die Nase und erstickte fast. Reena machte ein mißbilligendes Gesicht und Fayette bedeckte, prustend vor Lachen, den Mund.
    »Du kannst dir Gummi übers ganze Gesicht kleben«, schlug Fayette vor.
    »Ich würde aussehen wie Frankensteins Monster, nicht wie eine alte Lady«, sagte Letitia.
    »Und wo ist der Unterschied?« sagte Reena.
    »Also wirklich, Leute«, sagte Letitia. »Ihr führt euch eurem Alter entsprechend auf.«
    »Nicht aufführen«, sagte Fayette. »Wir sind es.«
    »Ich wünschte, wir könnten uns unserem Alter entsprechend aufführen«, sagte Reena.
    Nicht einmal erwähnten sie Leroux, aber es war, als säße er die ganze Zeit neben ihnen und nähme an ihren Leichtfertigkeit teil.
    Von allem, was sie tun konnten, kam dies einer Totenwache am nächsten.
     
    »Warst du bei deinem Designer, deinem Mediziner?« fragte Letitia Reena hinter dem Bühnenvorhang. Die Lichter waren aus. Bühnenarbeiter zogen Musselinwände auf Karren über die Bühne. Frischer Farbgeruch erfüllte die Luft.
    »Nein«, sagte Reena. »Ich bin nicht besorgt. Ich habe eine andere Initiierung.«
    »Wirklich?«
    Sie nickte. »Ist okay. Wenn es irgendein Problem geben würde, wäre ich nicht hier. Keine Sorge.« Und mehr wurde nicht gesagt.
     
    Der Abend der Generalprobe kam. Letitia trug ihr eigenes Make-up auf, zeichnete Bleistiftlinien und benutzte Farben und Schatten. Sie hatte geübt und fand sich leidlich geschickt im Ältermachen. Mit dem Bild ihrer Urgroßmutter vor sich imitierte sie die Tränensäcke, die sie später haben würde, malte Lachfalten um ihre Lippen und vervollständigte den Effekt mit einer übelriechenden grauen Perücke, die sie in einer Requisitenschachtel gefunden hatte.
    Die Schauspieler versammelten sich für eine Inspektion durch Miss Darcy. In den Kostümen der Zeit schienen sie recht erwachsen, groß und ansehnlich. Letitia machte es nichts aus, sich hervorzuheben. Eine alte Frau zu sein, verlieh ihr einen besonderen Status.
    »Entspannt euch diesmal, seid ganz ruhig«, sagte Miss Darcy. »Jeder erwartet von euch, daß ihr euren Text verpfuscht, also werdet ihr wahrscheinlich alles perfekt hinbekommen. Wir haben eine Audienz, aber sie sind hier, um uns unsere Fehler zu verzeihen, nicht, um über sie zu lachen. Das hier«, sagte Miss Darcy und hielt inne, »ist für Mr. Leroux.«
    Sie alle nickten ernst.
    »Morgen, wenn wir unsere erste Aufführung geben, ist es für dich.«
    Sie nahmen ihre Plätze in den Kulissen ein. Letitia stand hinter Reena, die die erste auf der Bühne sein würde. Reena warf ihr ein flinkes, nervöses Lächeln zu.
    »Wie geht’s deinem Magen?« flüsterte sie.
    »Wo ist die Tüte?« fragte Letitia und gab vor, sich den Finger in den Hals zu stecken.
    »AV«, meinte Reena heiter.
    »RK«, erwiderte Letitia. Sie schüttelten sich fest die Hände.
    Der Vorhang ging hoch. Die Festhalle war mit Eltern, Freunden und Verwandten halb gefüllt. Letitias Eltern befanden sich auch darunter. Die Dunkelheit hinter der Bühnenbeleuchtung war so tief, daß sie eigentlich mit Sternen und Nebeln angefüllt hätte sein müssen. Würde ihre schwache Stimme so weit tragen?
     
    Die aufgezeichnete Musik vor dem ersten Akt gelangte zu ihrem Ende. Reena machte Anstalten, um auf die Bühne zu treten – und hielt inne. Letitia stieß sie an. »Na los!«
    Reena drehte sich herum, um sie anzusehen; ihr Gesicht war zur Seite geneigt, und Letitia sah eine große Träne, die aus ihrem linken Auge lief. Fasziniert beobachtete sie die Träne, die wie in Zeitlupe über ihre Wange kullerte und auf den Satin ihres Gewandes tropfte.
    »Es tut mir leid«, wisperte Reena mit zuckenden Lippen. »Ich kann das jetzt nicht tun. Sag. Sag.«
    Erschreckt langte Letitia vor und versuchte, ihren Fall zu verhindern, sie zu stützen und sie auf ihrem Platz zu halten. Aber Reena war zu schwer, und sie konnte den Fall nicht verhindern, nur abbremsen. Reenas Füße traten wie die eines Pferdes aus, trafen schmerzhaft Letitias Beine. Alles schien in Stille erstarrt. Ihre Augen waren groß und leer und feucht, sie flatterten und zeigten schließlich das Weiße.
    Letitia beugte sich mit erhobenen Händen über sie, fürchtete, sie zu berühren, fürchtete, es nicht zu tun. Dabei war sie sich nicht bewußt, daß sie schrie.
    Fayette und Edna Corman standen, ebenfalls hilflos, hinter ihr.
    Reena lag, leblos wie eine verdrehte Puppe, mit dem Gesicht nach oben da. Ihre Augen bewegten sich

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