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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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muß schön gewesen sein. Ich bin froh, daß ich dich gefragt habe, auch wenn ich dumm gewesen bin.«
    »Warst du…« Letitia hielt inne. Der Zauber der Unterhaltung schwand bedauerlicherweise. Sie wußte nicht, ob ihre Frage so aufgefaßt würde, wie sie gemeint war. »Hast du mich gefragt, um mir eine Chance zu geben, nicht so dumm und zurückhaltend zu sein?«
    »Nein«, sagte Reena fest. »Ich habe dich gefragt, weil wir eine alte Lady brauchten.«
    Als sich die beiden ansahen, mußten sie plötzlich lachen, und der magische Moment war vergangen und wurde durch etwas Beständigeres, Dauerhafteres ersetzt: Freundschaft. Letitia nahm Reenas Hand und drückte sie. »Dank dir«, sagte sie.
    »Du bist willkommen.« Dann, mit kaum einer Pause dazwischen, sagte Reena: »Wenigstens mußt du dich nicht sorgen.«
    Letitia starrte sie mit halb offenem Mund und fragenden Augen an.
    »Muß jetzt nach Hause«, sagte Reena. Sie drückte Letitias Schulter mit mehr als nur freundlicher Kraft und offenbarte damit einen körperlichen Ärger oder eine Eifersucht, die entgegen allem stand, was sie bisher gesagt und getan hatten. Sie wandte sich um, ging durch die Tür des grünen Zimmers hinaus und ließ Letitia, die einige Latexstückchen und Klebstoff abriß, allein.
     
    Das Desaster wuchs. Letitia hörte sich spät am Abend in ihrem Zimmer die Nachrichten an. Geflüster in ihren Ohren, projizierte Geister von Sprechern, Ärzten und Wissenschaftlern, die vor ihrem Gesicht tanzten und ihr Dinge sagten, die sie nicht wirklich verstand, aber spüren konnte. Ein Ungeheuer schritt durch ihre Generation, aber es würde sie nicht erreichen.
    Als sie am Montag zur Schule ging, sah sie Studenten, die sich in düsterer Stimmung vor dem Läuten in den Fluren versammelten und mit leisen Stimmen miteinander sprachen und sie anblickten, als sie an ihnen vorbeikam. Während ihrer zweiten Stunde hörte sie aus den Unterhaltungen heraus, daß Leroux am Wochenende gestorben war. »Er war ein Begabter«, erzählte ein großes, athletisch gebautes Mädchen ihrer Nachbarin. »Gewöhnlich sterben sie nicht, sondern blitzen. Aber er ist gestorben.«
    Letitia suchte zu Beginn der Mittagspause Zuflucht in dem alten Waschraum. Sie fand ihn verlassen vor, blickte jedoch nicht in den Spiegel. Sie wußte, wie sie aussah und akzeptierte es.
    Was sie schwer zu akzeptieren fand, war das neue Gefühl in ihrem Innern. Die junge Letitia war verschwunden. Sie konnte nicht auf einem Schlachtfeld leben und ein Kind bleiben. Sie dachte an den schlanken, elfengleichen Leroux, der ihr Gesicht mit sanfter, professioneller Bewunderung berührt hatte. Starke, kühle Finger. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie weinte nicht. Sie ging zum Essen und fühlte sich leer, furchtsam und verwirrt.
    Sie wandte sich jedoch nicht an die Beratung. Dies war etwas, dem sie sich selbst stellen mußte.
     
    An den nächsten paar Tagen ereignete sich viel. Sie hatte keine Schwierigkeiten, ihren Text zu lernen. Ihre Rolle besaß eine Schwermut, die gut zu ihrer Stimmung paßte. Am Mittwochabend nach der Probe begleitete sie Reena und Fayette zu einem Sandwichstand im Supermarkt in der Nähe der Schule. Letitia hatte ihren Eltern nicht gesagt, daß es spät werden würde; sie hatte das Bedürfnis, niemandem außer ihresgleichen verantwortlich zu sein. Sie wußte, Jane würde aufgebracht reagieren, aber nicht für lange. Dies war eine Notwendigkeit.
    Weder Reena noch Fayette erwähnten die Ereignisse direkt. Sie waren feenhaft in ihrer Heiterkeit. Sie neckten Letitia damit, daß sie ihre Rolle nun ohne Make-up würde spielen müssen, und es erschien ihr, trotz ihres verborgenen Kummers, komisch. Sie aßen Sandwiches, tranken Fruchtsäfte und redeten darüber, was sie werden wollten, wenn sie erwachsen waren.
    »Die Dinge sind für gewöhnlich nicht so einfach«, sagte Fayette. »Kinder haben nicht so viele Möglichkeiten. Die Schule ist kein sehr effizientes Training für die wirkliche Welt, sie ist zu akademisch.«
    »Lernen war langsamer«, sagte Letitia.
    »So sind die Kinder«, sagte Reena und zeigte ein verantwortungsloses Grinsen.
    »Das gefällt mit nicht«, sagte Letitia. Dann sagten sie alle zusammen: »Ich bestreite es nicht, es gefällt mir bloß nicht.« Ihr Gelächter erregte die Aufmerksamkeit eines älteren Paars, das in einer Ecke saß. Selbst wenn sich der Mann und die Frau nicht ärgerten, wollte Letitia, daß sie es taten, und sie beugte den Kopf hinunter, kicherte

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