Tangenten
Nacht nicht mehr als ein paar Stunden. Das Wochenende schien sich bis in alle Ewigkeit ausdehnen.
Leroux verglich die Laserschaumform mit ihrem Gesicht, drehte ihr Kinn vor dem grünen Zimmerspiegel mit sanften Händen hierhin und dorthin. Während Leroux vor sich hinsummte und die verschiedenen Gußmaterialien an Letitia testete, probte der Rest der Dramagruppe eine Szene, die ihre Anwesenheit nicht erforderte. Als die Teilnehmer damit fertig waren, ging Reena in das grüne Zimmer, stellte sich hinter sie und sah zu. Letitia lächelte steif durch die eifrig aufgetragenen Leinentücher und den Hügel hautähnlicher Plastik.
»Du wirst großartig aussehen«, sagte Reena.
»Ich werde alt aussehen«, sagte Letitia scherzend.
»Ich hoffe, du bist deswegen nicht beunruhigt«, sagte Reena. »Niemand macht sich etwas daraus. Sie alle mögen dich. Sogar Edna.«
»Mir macht es nichts aus«, versicherte Letitia.
Leroux zog die Teile ab und legte sie sorgfältig in einen Kasten. »Hab es«, sagte er. »Ich werde langsam so gut, ich könnte sogar Reena alt aussehen lassen, wenn sie es zuließe.«
Letitia überlegte einen Moment lang. Die Folgerung dessen war, mehr noch als die Bedeutung, unangemessen deutlich. Reena errötete und starrte Leroux verärgert an. Leroux bemerkte ihren Blick, schaute zwischen ihnen hin und her und sagte: »Nun, ich könnte es.« Reena konnte nichts vorbringen, ohne tiefer in die Sache hineinzugeraten. Letitia blinzelte und entschied dann, sie von diesem Haken zu lassen. »Sie würde nicht wie eine Großmutter aussehen. Ich werde eine viel bessere alte Lady sein.«
»Selbstverständlich«, sagte Leroux, nahm seinen Kasten und die Formen. Er ging zur Tür wie ein verrückter Scharfrichter. »Wie deine Urgroßmutter.«
Für einen langen Augenblick standen sich Reena und Letitia allein im grünen Zimmer gegenüber. Die alten weißglühenden Make-up-Lichter leuchteten grell um den gesprungenen Spiegel herum und warfen einen perligen Glanz auf die weißen Wände hinter ihnen. »Du bist eine gute Schauspielerin«, sagte Reena. »Es kommt wirklich nicht darauf an, wie du aussiehst.«
»Danke.«
»Manchmal wünschte ich mir, ich sähe aus wie jemand in meiner Familie«, sagte Reena.
Ohne nachzudenken sagte Letitia: »Aber du bist doch schön.« Und sie meinte es auch so. Reena war schön. Mit ihrer levantinischen Dunkelheit, den langen schwarzen Haaren, ihrem kleinen scharfen Kinn, großen haselnußfarbenen Mandelaugen und der schmalen, ein wenig gebogenen Nase war sie einfach reizend. Sie hatte die Art von Gesicht und besaß die Intelligenz, die sie vor zwei oder drei Generationen in die Unterhaltungsbranche geführt oder sie in die gesellschaftlichen Kreise der Reichen und Berühmten gebracht hätten. Hinter ihrer körperlichen Schönheit befand sich ein Funken verborgenen Witzes und etwas Sanftes. VEKs waren gesünder, fühlten sich besser und ihr Verstand war, im Durchschnitt gesehen, scharfsinniger, ausgeglichener. Letitia fühlte sich nicht unterlegen, jedenfalls nicht diesmal.
Etwas Magisches überkam sie. Die vorherige Unannehmlichkeit und deren gewandte Auflösung führte sie zu einer bezaubernden Unterhaltung. Keine der beiden könnte sich der anderen gegenüber verteidigen, das war ohne Worte klar.
»Meine Eltern sind ebenfalls schön. Ich bin die zweite Generation«, sagte Reena.
»Warum willst du anders aussehen?«
»Will ich gar nicht, glaube ich. Ich bin glücklich, so, wie ich aussehe. Aber ich sehe meiner Mutter und meinem Vater nicht ähnlich. Oh, Farbe, Haare, Augen, das alles… Trotzdem, meine Mutter war mit ihrem Gesicht nicht zufrieden. Sie ist mit meiner Großmutter nicht gut zurechtgekommen… Sie hat ihr die Schuld daran gegeben, daß sie ihr Gesicht nicht ihrer Persönlichkeit angepaßt hat.« Reena lächelte. »Das Ganze ist reichlich töricht.«
»Manche Menschen sind niemals glücklich«, bemerkte Letitia.
Reena trat einen Schritt nach vorn und beugte sich etwas vor, um Letitias Spiegelbild anzusehen. »Wie fühlst du dich jetzt, wo du aussiehst wie deine Großmutter?«
Letitia biß sich auf die Lippe. »Bis du mich gefragt hast, ob ich mitmache, habe ich gedacht, ich würde es niemals wissen.« Sie erzählte ihr davon, wie ihre Mutter ihr das Album gegeben und sie sich im Spiegel betrachtet hatte – ohne dabei ihre Nacktheit zu erwähnen – und sich mit den alten Bildern verglichen hatte.
»Ich glaube, das nennt man eine Epiphanie«, sagte Reena. »Es
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