Tangenten
seine Augen. Die Kristalltoten im Zug traten durch die geöffnete Tür und glitten an ihm vorbei. Klebrige Wellen der Kälte ließen die Luft erschaudern.
»Du bist ein kühner kleiner Bastard«, sagte der Fahrer. Seine Stimme brachte es fertig, unterhalb jeder menschlichen Wahrnehmung zu liegen und trotzdem vernehmbar zu sein.
Die weiße Fliesenwand vibrierte. »Alles, was ich tun muß, ist, dir deinen Lebensfaden vor deinen Augen abzuschneiden« – er ließ die Schere Zentimeter vor Olivers Nase zuschnappen –, »und du findest deinen Weg nach Hause nicht mehr.«
Der Fahrer drängte ihn gegen die kalte Barriere der Selbstmörder. Olivers Furcht konnte seine Neugierde nicht überwinden. War der Stierkopf echt oder befand sich ein Mann unter den Hörnern, der Haut und den Knochen? Die Augen in den tiefliegenden Augenhöhlen glühten jetzt eisblau. Die Schere schloß sich noch einmal vor Olivers Gesicht, noch näher, schnippte Haare von seiner Nase.
»Du gehörst mir«, flüsterte der Fahrer, und die Schere schloß sich um etwas Unnachgiebiges, Unsichtbares. Olivers Kopf explodierte vor Schmerz. Mit den Armen rudernd drängte er sich durch die Toten und zog den Fahrer an der Schere, die in etwas Unsichtbarem und Wichtigem festhakte, mit sich mit. Brüllend langte der Fahrer mit beiden Händen nach den Griffen der Schere. Oliver fühlte sich, als würde sein Kopf aufgeschlitzt. Mit aller Kraft trat er dem schwarzuniformierten Fahrer zwischen die Beine. Sein Fuß traf auf Heisch und Knochen, so hart wie Fels und seine Todesangst verdoppelte sich.
Aber die Schere hing für einen Augenblick in der Luft vor Olivers Gesicht, und der Fahrer beugte sich langsam vornüber.
Oliver riß die Schere an sich, öffnete sie, befreite den Faden zwischen sich und seiner Vergangenheit, seinem Zuhause und drängte sich durch die Toten. Die Schere warf Reflexe über die verwunderten, wäßrigen Gesichter der Selbstmörder. Plötzlich, eine Chance erkennend zu entkommen, schwärmten sie über den Bahnsteig aus, einige auf die Treppe, einige zu beiden Seiten der Plattform. Oliver rannte durch sie hindurch, die Stufen hinauf und stand im warmen Abend auf dem Gehsteig Sunsides. Alles, was er im Stationseingang ausmachen konnte, war ein saurer Geruch von Öl und Blut und ein schwacher Kältehauch von den Händen der Toten, die in der milden Nacht verschwanden.
Eine schweigende Menge hatte sich am Vordereingang von Miss Parkhursts Haus versammelt. Sie warteten auf etwas, ihre schweißigen Gesichter leuchteten gierig.
Er sah die Limousine nicht. Seine Brüder mußten längst da sein; also waren sie schon drinnen.
Er rannte am braunen Sandsteingebäude entlang und suchte nach dem Eingang der unterirdischen Garage. Auf der Südseite fand er die Rampe und ging sie hinab, schlug die Hände gegen die geriefte Metalltür. Echos antworteten ihm. »Ich bin’s!« rief er. »Lassen Sie mich ein!«
Ein Mann mittleren Alters betrachtete ihn gelassen vom oberhalb gelegenen Gehsteig aus. »Was wollen Sie denn da drin, junger Mann?« fragte er.
Oliver blickte über die Schulter. »Das geht Sie nichts an«, sagte er.
»Vielleicht doch, wenn Sie hineinwollen«, sagte der Mann. »Es gibt einen Weg in das Haus, den alle Männer nehmen können. Es lehnt niemals Gold ab.«
Oliver ließ einen Moment verdutzt von der Tür ab. Der Mann zuckte die Achseln und ging weiter.
Er hatte immer noch die Schere des Fahrers in der Hand. Sie war nicht aus Gold, sondern aus Silber, aber sie mußte etwas wert sein. »Lassen sie mich ein!« sagte er. Dann, den Einsatz erhöhend, grub er in seiner Tasche und brachte eine verbliebene Katzenkopfmünze zum Vorschein. »Ich bezahle auch!«
Die Tür öffnete sich ächzend. Die Garagenlichter waren ausgeschaltet, aber im milden gelben Schein des Straßenlichts sah er eine Adlerklaue, die knapp hinter dem Türrahmen aus einer Ziegelwand herausragte und eine goldene Tasse hielt. Die Münze in einer Hand, die Schere in der anderen, kniff Oliver die Augen zusammen. Jetzt Beiles Haus zu bezahlen war keine ehrenvolle Tat; er ließ die Münze in die Tasse fallen, behielt aber die Schere und rannte in die Dunkelheit.
Ein schwacher Lichtschein zeichnete sich unter der Treppentür ab. Um die Tür herum schimmerten die Knochen uralter Stadtbewohner im kompakten Gestein, die Zähne und Knöchel so hell wie Leuchtkäfer. Oliver probierte die Tür; sie war verschlossen. Er steckte die Scherenspitze zwischen Tür und Rahmen und
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