Tangenten
Bemühen, all die Kraft, die ihm noch im Arm und in den Händen verblieben war. Er glaubte, er müsse ohnmächtig werden oder sich übergeben. Beiles Augen hatte sich geschlossen. Ihr Atem war nicht mehr auszumachen.
Fünf Stricke verblieben. Er schnitt durch einen hindurch, dann durch einen weiteren. Als er die Schere an den dritten anlegte, erschien ein großer Mann auf der anderen Seite ihres Betts. Er war in blassem Grau gekleidet und trug einen breitrandigen grauen Hut. An seinen Fingern steckten goldene Ringe. Eine goldene Adlerklaue hielt seine weiße Seidenkrawatte.
»Ich war ihr Freund«, sagte der Mann. »Sie kam zu mir und hat mich betrogen.«
Oliver hielt die Schere zurück, seine Augen schmerzten vor Zorn. »Wer sind Sie?« verlangte er zu wissen, krümmte sich vor Anstrengung. Er starrte zu dem grauen Mann hinauf.
»Dieser andere alte Mann, er hat kaum mit ihr gearbeitet. Ich ließ sie hier arbeiten, sie hat mich betrogen.«
»Sie sind ihr Zuhälter!« Oliver spuckte das Wort aus.
Der graue Mann grinste.
»Schneide diesen Faden durch, und sie wird zu Nichts.«
»Sie ist bereits nichts. Sie stirbt.«
»Sie hätte es sich mit mir nicht verderben sollen«, sagte der Zuhälter. »Ich war stark, hatte viele Verbindungen. Was willst du mit so einer alten ausgevögelten Hure, Junge?«
Oliver antwortete nicht. Er bemühte sich, den dritten Faden durchzuschneiden, aber dieser wand sich wie eine Schlange zwischen den Schneiden der Schere.
»Sie wäre auch ohne mich eine Hure geworden«, sagte der Zuhälter. »Vom Tage ihrer Geburt an war sie eine Hure.«
»Das ist eine Lüge«, sagte Oliver.
»Warum willst du zu ihr gelangen? Sie schenkt dir die Syphilis, und du willst ihr den Gnadenstoß geben?«
Oliver warf den Kopf zurück. Er blickte nicht hin, als er die Schere mit aller verbliebener Kraft zusammendrückte und mit tödlichem Zorn den Druck noch einmal verstärkte. Der dritte Faden wurde abgetrennt. Dabei schwirrte eine Schneide durch den Raum und blieb mit einem Aufspritzen von Putz in der Wand stecken. Der graue Mann verschwand wie Zigarettendunst und hinterließ einen Geruch nach Zwiebeln und schalem Bier.
Belle hing nur noch an zwei Fäden. Die verbleibende Schneide wie ein Messer schwingend, zerteilte er die Fäden und fiel über ihren kühlen Körper. Es war, als wäre sie tot.
»Miss Parkhurst«, sagte er. Er berührte ihr Gesicht, das fast so weiß war wie die Bettücher. Ihre hohen Wangenknochen zeichneten sich deutlich unter ihrer wächsernen Haut ab. Er küßte sie.
Weit entfernt gackerten fröhlich Denver und Reggie.
Das Haus wurde still. Alle Geister waren mit beglichenen Rechnungen geflohen, waren befreit.
Die einzige Kerze im Raum erlosch, und sie lagen allein im Dunkeln. Gegen seinen Willen fiel Oliver in einen erschöpften Schlummer.
Kühle, nach Rosen duftende Finger berührten seine Stirn. Er öffnete die Augen und sah ein Mädchen, kaum älter als er selbst, in weißem Nachthemd über ihn gebeugt stehen. Ihre Augen waren sehr groß, und ihre Lippen waren zu einem Lächeln verzogen. »Wo sind wir?« fragte sie. »Wie lange sind wir schon hier?«
Die Morgensonne füllte den kleinen dunstigen Raum mit Wärme. Er blickte um das Bett herum, hielt Ausschau nach Belle. Dann wandte er sich wieder dem Mädchen zu. Sie ähnelte der Chauffeurin, die ihn in jener ersten Nacht zum Haus gebracht hatte. Sie war nur jünger, ihr Gesicht milder und arglos.
»Du erinnerst dich nicht?« fragte er.
»Liebling«, sagte das Mädchen freundlich, die Hände in die Hüften gestemmt, »ich erinnere mich an vieles nicht. Außer, daß du mich geküßt hast. Willst du mich noch einmal küssen?«
Mama war von der seltsamen jungen Frau, die er mit nach Hause brachte, nicht angetan und wollte wissen, wo Reggie und Denver waren. Oliver brachte nicht übers Herz, es ihr zu sagen. Sie lagen, gebannt von der Magie des Zuhälters, so kalt wie Eis in einem Raum, angefüllt mit Hügeln von Katzenkopfmünzen für die Untergrundbahn. Sie hatten sich in Weiß gekleidet, mit breiten weißen Hüten; gekleidet wie Zuhälter. Aber das Haus war leer, von der habgierigen Menge aller Wertsachen beraubt.
Sie waren Zuhälter in einem Hurenhaus ohne Huren.
»Wo hast du das Mädchen gefunden? Sie verbirgt etwas, Oliver. Paß auf!«
Oliver ignorierte die Befürchtungen seiner Mutter.
Da seine Brüder, die sich Geld liehen und nicht mehr zurückzahlten, nicht mehr da waren, sparte er Geld und mietete bald
Weitere Kostenlose Bücher