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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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hebelte solange, bis das Schloß aufsprang.
    Das ruhige Wohnzimmer wurde lediglich von einigen tropfenden Kerzen beleuchtet, die in herabhängenden Adlerklauen steckten. Die Luft war angefüllt mit den derben Gerüchen von seit langem erloschenen Zigarren und Zigaretten. Oliver hielt einen Moment lang inne, schloß die Augen und lauschte. Es gab ein Zimmer, das er in der Zeit seiner Anwesenheit in Belle Parkhursts Haus nicht gesehen hatte. Sie hatte ihm nicht einmal die Tür gezeigt, aber er wußte, das sie existieren mußte, und dort würde er sie finden, tot oder lebendig. Wo sich seine Brüder befanden, wußte er nicht; im Augenblick kümmerte ihn das auch nicht. Er bezweifelte, daß sie in einer tödlichen Gefahr schwebten. Beiles Macht war so schwach, wie das Licht der vereinzelten Kerzen.
    Oliver schlich die dunklen Korridore entlang und hielt die schimmernde Schere als Warnung gegen alles vor sich, was ihn aufhalten könnte. Er erklomm zwei weitere Treppenabsätze bis zur dritten Etage, wo er einen teppichlosen Flur mit bloßen Wänden vorfand, den er bisher noch nicht gesehen hatte. Die trockenen Bodenbretter knarrten unter ihm. Die Luft war kühl und unbewegt. Er konnte eine Spur von Beiles Rosenparfüm riechen. Am Ende des Flurs befand sich eine schlichte, getäfelte Tür mit einem angelaufenen Messingknauf.
    Diese Tür war ebenfalls unverschlossen. Er nahm seinen Mut zusammen, atmete tief ein und öffnete sie.
    Dies war Belles Zimmer, und sie befand sich tatsächlich darin. Sie hing in einem Gewebe schimmernder Fäden über ihrem schlichten Eisengestellbett. Er schreckte zurück, dachte einen Moment lang, sie sei eine Spinne, aber es wurde ihm augenblicklich klar, daß sie mehr die Beute einer Spinne war. Die Fäden reichten in alle Ecken des Raums. Sie waren transparent und hüllten sie eng ein. Für ihn hatten sie jedoch lediglich die Substanz von Luft.
    Belle wandte den Kopf und sah ihn an. Sie war schwach, ihre Augen umwölkt, die Haut wie Papier. »Warum hat es so lange gedauert?« fragte sie.
    Von der anderen Seite des Hauses her hörte er Reggies erfreutes Lachen.
    Oliver trat vor. Die Schneiden der Schere rupften an den Fäden; er kam ungehindert durch. Sein Arm war durch den Gebrauch des silbernen Instruments angespannt. Dann erkannte er, was die Fäden waren; es waren die Fäden, die Belle an das Haus banden, sie mit all ihren Kunden verknüpfte. Belle hatte nicht nur einen Faden zu ihrer Vergangenheit, sondern tausende. An jeder Stelle, an der sie berührt worden war, hielt sie ein Strick. Dicke gewundene Stränge der Vergangenheit entsprangen ihrem Mund, ihren Brüsten und zwischen ihren Beinen; selbst die Zehen waren nicht frei davon.
    Ohne nachzudenken, hob Oliver die Silberschere des Fahrers und begann damit die Fäden abzuschneiden. Einen nach dem anderen oder in klebrigen Knäueln schnitt er sie durch. Mit jeder Begegnung der Schneiden verschwanden sie. Er fragte sich nicht, welches ihr erster Faden war, der, der sie mit ihrer Kindheit verband, den wenigen Jahren, bevor sie zur Hure wurde; es gab keine Zeit an solche Feinheiten zu vergeuden.
    »Ihre Brüder sind in meinem Gewahrsam«, sagte sie. »Sie haben mein Gold und meine Juwelen gefunden. Ich habe mich hierher geschlichen.«
    »Bleib ruhig«, sagte Oliver mit zusammengebissenen Zähnen. Die Stricke wurden, je näher er an ihren dünnen grauen Körper gelangte, zäher, fühlten sich mehr wie Drähte an. Seine Armmuskeln verknoteten sich, und kalter Schweiß durchweichte seine Kleider. Sie rutschte Zentimeter näher auf das Bett zu.
    »Ich habe noch niemals einen Mann mit hierhergebracht«, sagte sie.
    »Schsch.«
    »Dies war mein Platz, der einzige Platz, den ich hatte.«
    Nun waren statt Tausender nur noch Hunderte von Stricken übrig. Minutenlang arbeitete er weiter, beobachtete, wie sie immer bleicher wurde, beobachtete, wie sich ihre einstige Feuerofenhitze zu weniger als der einer einzelnen Kerze abschwächte. Ihre Augen verloren ihren fiebrigen Glanz. Für einen schrecklichen Moment dachte er, sie mit dem Abschneiden der Fäden in Wirklichkeit zu schwächen, aber er hackte und schnitt ungeachtet dessen weiter. Sie waren nun noch dichter, elastischer.
    Weit entfernt im Haus lachten Denver und Reggie, und ein schweres klingendes Geräusch war zu vernehmen. Der Flur erbebte. Dutzende von Fäden waren noch vorhanden. Er hatte bereits eine Ewigkeit an ihnen gearbeitet und nun forderte jeder einzelne Faden sein konzentriertes

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