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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Kauflustige hinauswagten. Wozu hinausgehen? Um zwei solche Idioten zu retten? Nicht deshalb – obwohl es ausreichend gewesen wäre, da ihr Verlust Mama verletzt hätte; außerdem waren es seine Brüder. Nicht wegen seines Versprechens. Aus einem anderen Grund.
    Er hatte Angst um Belle Parkhurst.
    Er hielt seinen Mantelkragen zusammen und lehnte sich in den Wind. Er hatte keinen Hut aufgesetzt. Seine Stirn wurde kalt, und für einen Moment fühlte er sich ausgepumpt und erschöpft. Aber er schaffte es zum Eingang der Untergrundbahn und stolperte die Stufen hinab in das warme Herz der Stadt, wo stets 17 Grad herrschten.
    Hinter dickem Glas und einer metallenen Bude verschanzt, saß die Münzverkäuferin mit müden, wissenden Augen. Sie ließ die Katzenkopfmünzen in die stählerne Ablage fallen. Oliver blickte ihr ins Gesicht und sah das der Hure. Diese Frau mittleren Alters würde ihre Beine nicht für Geld breit machen, hatte aber ihre Jugend und ihr Leben verkauft, um in dieser Höhle zu sitzen. Welche Leere war beklemmender?
    »Seien Sie vorsichtig«, warnte sie ihn freimütig durch das Sprechgitter. »Die Nachtmetro ist jetzt jeden Moment fällig.«
    Er warf eine Münze ins Drehkreuz und drängte sich hindurch. Dann stand er fröstelnd auf dem Bahnsteig und wartete auf den Sunside-Zug. Es schien ewig zu dauern, bis er kam. Als es dann soweit war, war er nicht besonders erleichtert. Die hohlen Augen des Fahrers blinkten grün, sein Stierkopf wandte sich, als der Zug am Bahnsteig zum Stehen kam. Die Türen öffneten sich mit einem öligen Ächzen, und Oliver stieg in die harte, kalte, unversöhnliche Helligkeit des Zuginneren ein.
    Zunächst dachte Oliver, der Wagen wäre leer. Er setzte sich jedoch nicht. Das Haar in seinem Nacken und an seinen Armen sträubte sich. Seine Hand ergriff einen rostfreien Stahlgriff, lehnte sich der Beschleunigung des Zuges entgegen und atmete tief durch, wobei er sich beinahe verschluckte.
    Er nahm die anderen Passagiere erst bewußt wahr, als sich ihre Silhouetten gegen das gedämpfte Licht von vorüberziehenden Geisterstationen abzeichnete. Sie saßen beinahe unsichtbar dort, bevölkerten den Wagen. Sie standen neben ihm, weniger greifbar als ein Atemzug. Sie beobachteten ihn eindringlich, hegten im Augenblick keine Feindseligkeit. Vielleicht waren sie sich bisher noch nicht bewußt, daß er lebte und sie nicht. Sie trugen keine offensichtlichen Anzeichen von Verwundungen, aber woran es lag, daß sie hier waren, sagten ihm seine Instinkte.
    Dieser Zug beförderte Selbstmörder: Männer, Frauen, Teenager und sogar einige Kinder, zerbrechlich wie teures Kristall in einem Schaufenster. Vielleicht hatte der stierköpfige Fahrer sie eingesammelt, aussortiert und eingesperrt, als sie zufällig in seinen Zug stolperten. Vielleicht beherrschte er sie.
    Oliver versuchte, in seinem Mantel zu versinken. Er fühlte sich schuldig, weil er lebendig und gesund war, eingebettet in starke Gefühle; sie waren so fadenscheinig, besaßen so wenig Halt in dieser Realität.
    Er murmelte ein Gebet und hielt inne, als sich alle in seine Richtung wandten und ihn mißbilligend ansahen. Still betete er weiter, aber das schien seine Mitpassagiere nur noch mehr zu verwirren. Sie quiekten sich zu mit Stimmen, die nur ein Hund oder eine Fledermaus zu vernehmen mochte.
    Die Stationen zogen vorüber. Mosaiksymbole und Namen blitzten in Lichtteichen vorbei. Als sich die Sunside-Station näherte und der Zug langsamer wurde, bewegte sich Oliver schnell zur Tür. Er trat auf den Bahnsteig, wandte sich um und stieß gegen die dunkle Uniform des stierköpfigen Fahrers. Die Luft um ihn herum stank nach Schmiere und Elektrizität und etwas süßlicherem, vielleicht Blut. Er war etwa einen halben Meter größer als Oliver. In einer ausgestreckten, ledernen Hand mit schwarzen Fingernägeln hielt er seine lange Silberschere mit weit auseinanderstehenden Spitzen – eine kurze Andeutung von Belle Parkhursts Position unter den alten Männern.
    »Du bist am falschen Ort zur falschen Zeit«, warnte ihn der Fahrer mit einer Stimme, die tiefer war als das Geräusch des Zugmotors. »Hier unten kann ich dir den Lebensfaden abschneiden.« Er ließ die Schere zuschnappen.
    »Ich gehe zu Miss Parkhurst«, sagte Oliver mit zitternder Stimme.
    »Wohin?« fragte der Fahrer.
    »Ich gehe jetzt«, sage Oliver und ging rückwärts. Der Fahrer folgte und beugte sich langsam über ihn. Die Schere öffnete sich flüsternd, richtete sich gegen

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