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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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ein preiswertes Studio in der sechsten Etage des gleichen Gebäudes. Das Mädchen kam zu ihm ins Bett. Auf seine Weise liebte er – und fürchtete sie, doch dies Tag für Tag weniger.
    Sie spielte auf dem Piano beinahe so gut wie er, und sie planten, Unterricht zu geben. Sie hatten einen großen Koffer voller alter Notenblätter und Bücher aus dem Haus mitgebracht. Die Menge hatte ihnen wenigstens dies gelassen.
    Nachdem sie umgezogen waren, besuchte sie Mama, und das Mädchen gewann sie schließlich für sich.
    »Sie kocht nicht schlecht«, sagte Mama. »Du hattest eine ganz gute Hand.«
    Yolanda schloß schnell und leicht Freundschaft mit ihr, und Oliver erkannte einen tieferen Kern in seiner jüngeren Schwester als zuvor.
    Manchmal in der Nacht musterte er sie, während sie schlief, und fragte sich, ob es noch Geschichten und vielleicht auch Fähigkeiten gab, die hinter ihrem lieblichen, friedvollen Gesicht verborgen waren. Hatte sie alles vergessen?
    Zur rechten Zeit heirateten sie.
    Und lebten…
    Nun, genug.
    Sie lebten.
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    Originaltitel: ›SLEEPSIDE STORY‹ • Copyright © 1988 by Greg Bear • Erstmals erschienen bei Cheap Street Press in einer limitierten Ausgabe • Copyright © 1997 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München • Aus dem Amerikanischen übersetzt von Andreas Irle

 
WEBSTER
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    Trocken.
    Es verweilte in der Luft, ein rauschendes und wisperndes Wort. Geier umwehten ihr Haar. Oder – sie fuhr mit ihrem Finger, der mit Haut wie rosa Pergament bedeckt war, an der Seite hoch – Dinosauriereier, Roy Chapman Andrews inmitten der Gobi, graues Filmflimmern, als faustgroße unausgebrütete Ovoide aus ihren Gräbern gehoben wurden.
    Sie schlug das Wörterbuch um ihren Finger zu. Es umgriff sie mit festem, freundlichen Druck.
    Miss Abigail Coates erfreute sich ihres Lebens nicht. Sie hatte keinen Anteil an dem langweiligen Schmerz der Leute in den Straßen. Sie fühlte sich vom Licht gefangen, wenn die Sonne auf Stadtmauern und Bürgersteige prallte und in ihr kleines Apartment eindrang. In diesem Kosmos gab ihr ihr Körper keine Freude, verursachte keine Überraschungen, spornte keine unkontrollierbaren Leidenschaften an.
    Miss Coates war fünfzig und hatte, mein Gott, es war wie Stiche, wenn sie daran dachte, noch nie ein Kind geboren; sie hatte nicht mal einen Mann gehabt.
    Einst hatte sie eine einsame Liebe zu einem fünf Jahre jüngeren Jungen empfunden. Er hätte die Stiche abstumpfen können; er hatte darum gebeten, eine Chance zu bekommen. Aber nein. Ich mußte meine Liebe als Köder benutzen und die Gebühr jene zahlen lassen, die sie wollten.
    »Ich bin eine bemitleidenswerte Frau«, sagte sie und zog sich in ihrem kleinen Apartment aus ihrem Stuhl hoch und richtete sich auf. Ich weine innerlich, dann lese ich die teure Bibel und das noch teurere Wörterbuch. Sie sagen, Weinen ist Sünde. Verzweiflung ist von meinen wenigen fürchterlichen Sünden die bei weitem geringste.
    Sie blickte sich in dem trockenen, bequemen Raum um und bedeckte die Augen gegen die Düsterkeit des Ortes, wo sie schlief, als ob sie von den Schatten geblendet würde. Der Ort war kein Schlafzimmer, weil man in einem Schlafzimmer mit einem Mann oder Männern schlief und sie niemanden hatte. Ihr Blick bewegte sich den Türrahmen hinauf, streifte eine Ecke, wo schwerfällige Möbelpacker vor zwanzig Jahren ihr Bett gegen das Holz gestoßen hatten; hinunter zu dem abgelaufenen Teppich, der ihr die Flächen ihrer Füße abgescheuert hatte wie rohe Leinwand. Zu dem Stuhl hinter ihr, der zur Mitte hin eine immer weniger ausgestopfte Sitzfläche hatte. Zu den Tapeten, die von jemand anderem ausgesucht worden waren und die entlang der Simse von einem lange zurückliegenden Regen stockfleckig waren. Schließlich blickte sie auf ihre Füße hinunter. Zehen wackelten in lockeren, ausgefransten Nylonstrümpfen; die Zehennägel dick und gut pedikürt; alle Teile ihres Körpers sahen gepflegt aus – außer der Kern, die Seele.
    Sie ging hinüber zu dem Platz, wo sie schlief und legte sich hin. Die Bettlaken liebkosten sie. Knitter und Falten in den Decken rieben ihre Schenkel, ihre Brüste. Das Kissen akzeptierte ihr pfefferfarbenes Haar und im Dunklen wartete sie auf den Schlaf.
    Der Morgen war besser. Der Nachmittag verging wie ein dumpfer Schmerz. In der Dämmerung weinte sie, als sie ihr karges, fades Essen aus Kartoffeln und Kalbfleisch zubereitete. Im Dunklen saß sie mit den zwei Büchern auf

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