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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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zweifelnd an. »Ich sah ihr Piano. Da war ein Regal in der Nähe, mit den schönsten Notenblättern, die du je gesehen hast, sogar Bücher voll damit. Ich habe mir einige angesehen. Oh, Oliver, ich habe niemals in meinem Leben irgend etwas genommen…« Sie weinte nun frei heraus, verbrauchte die wenige Kraft, die ihr das Essen gegeben hatte.
    »Sorg dich nicht, Mama. Sie hat dich benutzt. Sie wollte, daß ich komme.« Als Nachgedanke fügte er, nicht sicher, warum er log, hinzu: »Oder Yolanda.«
    Mama nahm es zur Kenntnis, während ihre Augen liebevoll sein Gesicht musterten. »Du willst zurück«, sagte sie, »nicht wahr?«
    Oliver blickte auf die gefalteten Blätter unter ihrem Arm. »Ich habe es versprochen. Sie stirbt, wenn ich es nicht tue«, sagte er.
    »Diese Frau ist eine Lügnerin«, stellte Mama nachdrücklich fest. »Wenn sie dich will, wird sie alles tun, um dich zu bekommen.«
    »Ich glaube nicht, daß sie lügt, Mama.«
    Sie blickte weg, ein ärgerliches Aufblitzen in den Augen. »Warum hast du es ihr versprochen?«
    »Sie ist nicht so schlecht, Mama«, sagte er wieder. Er hatte angenommen, die Rückkehr nach Hause würde seinen Verstand klären, aber Miss Parkhursts Gesicht, ihre Bitte, haftete ihm an, als wäre sie nur ein Zimmer entfernt. Das Haus schien nur ein schwindender Traum zu sein, unwichtig; aber Belle Parkhurst blieb. »Sie braucht Hilfe. Sie will sich ändern.«
    Mama plusterte ihre Backen auf und blies durch ihre Lippen. Sie hatte dies oft bei seinem Vater getan, aber noch nie bei ihm. »Sie wird immer eine Hure bleiben«, sagte sie.
    Olivers Augen verengten sich. Er erkannte eine Boshaftigkeit und Verbitterung in Mama, die er vorher nicht bemerkt hatte. Nicht, daß die Boshaftigkeit ungerechtfertigt gewesen wäre – Miss Parkhurst hatte Mama grob behandelt. Dennoch…
    Denver stand in der Tür. »Reggie und ich müssen mit Mama reden«, sagte er. »Über dich.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Allein.« Reggie stand grinsend hinter seinem Bruder. Oliver nahm das Tablett mit dem Geschirr, drängte sich an ihnen vorbei und ging zur Küche.
    In der Küche spülte er das Geschirr der letzten paar Tage ab und ließ das lauwarme Wasser über die Hände laufen, wobei er den Blick auf den matten Schimmer des Hahns richtete. Beinahe hatte er sein Gefühl für die Zeit verloren, als er das Zuschlagen der Vordertür hörte. Er hob den Kopf, trocknete den letzten Teller ab, stellte ihn weg und ging in Mamas Zimmer. Sie blickte ihn schuldbewußt an. Etwas war nicht in Ordnung. Er suchte mit den Augen das Zimmer ab, aber nichts hatte sich verändert. Nichts, was normalerweise da war…
    Das Kästchen.
    Seine Brüder hatten das Kästchen mitgenommen.
    »Mama!« sagte er.
    »Sie statten ihr einen Besuch ab«, sagte sie. Ihre Verbitterung war nun offenkundig. »Sie mögen es nicht, wenn ihre Mama mißhandelt wird.«
    Es wurde dunkel, und der Schnee fiel in dicken Flocken. Er hatte gehofft, an diesem Abend zurückzukehren. Wenn Miss Parkhurst nicht gelogen hatte, würde sie nun sehr schwach sein und morgen vielleicht tot.
     
    Seine Lungen schienen sich zusammenzuziehen, und es fiel ihm schwer, Luft zu holen.
    »Ich muß gehen«, sagte er. »Sie könnte sie umbringen, Mama!« Aber das war es nicht, was ihn beunruhigte. Er zog seinen schweren Mantel und Vaters alte Gummistiefel mit den Schneesohlen an. Yolanda kam aus dem Zimmer, das sie sich mit den Babys teilte. Sie stellte keine Fragen und beobachtete mit trüben Augen, wie er sich gegen die Kälte ankleidete.
    »Sie haben dieses Goldkästchen«, sagte sie, als er die letzte Metallklammer an den Stiefeln einschnappen ließ. »Ist wahrscheinlich eine Menge wert.«
    Oliver zögerte in der Diele, ergriff dann Yolandas Schultern und schüttelte sie. »Du gibst auf Mama acht, hörst du?«
    Sie klappte ihren Mund zu und riß sich los. Oliver war aus der Tür, bevor sie etwas sagen konnte.
    Das letzte Licht des Tages erfüllte den Himmel mit einem tief pfirsichfarbenen Glanz, der mit einem kalten Grau durchsetzt war. Schnee fiel golden auf die Gebäude und schmutzigbraun in ihre Schatten. Der Wind wirbelte traurig um ihn herum und drang durch seinen Mantel, um ihm die Wärme zu stehlen. Für einen erschreckenden Augenblick war seine gesamte Entschlossenheit wie weggeblasen. Die Straßen waren verlassen. Er fragte sich, welche Nacht dies eigentlich war und erinnerte sich, daß es der 23. Dezember war. Aber es war zu kalt, als daß sich

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