Tante Dimity und der Fremde im Schnee
»Sind Sie sicher?«
Schwester Willoughby ließ keinen Zweifel aufkommen. »Seine Haarfarbe wird Sie getäuscht haben – vorzeitig ergraut, meint die Stationsschwester. Und natürlich, dass er so schrecklich dünn ist … nun«, fuhr sie in geschäftsmäßigem Ton fort, »Dr. Pritchard hat die Besuchszeiten etwas gelockert, aber Sie dürfen trotzdem nur zehn Minuten bei unserem Patienten bleiben.«
»Das reicht mir«, sagte ich.
Die Bewunderer des Landstreichers zerstreuten sich, als wir uns dem gläsernen Raum näherten.
Schwester Willoughby öffnete mir die Tür, schloss sie hinter mir und kehrte zum Stationszimmer zurück.
Ich blieb dicht hinter der Tür stehen und starrte auf den Boden. Ich war keine ausgebildete Krankenschwester, ich fand kranke Menschen auch nicht faszinierend. Durch die Flure hatte ich es noch geschafft, ohne unangenehm aufzufallen, aber das hier war noch etwas anderes, so nahe bei einem Patienten in kritischem Zustand zu sein. Aber ich hatte es Tante Dimity versprochen
… also riss ich mich zusammen und hob den Kopf.
Der Landstreicher sah so zart aus wie ein Blatt im Herbst. Seine Schlüsselbeine stachen unter dem hellblauen Krankenhemd hervor, seine langen Finger waren von Gazestreifen bedeckt. Eine durchsichtige Sauerstoffmaske bedeckte seine Nase und seinen Mund. An seinen Armen hingen Schläuche, Drähte verbanden ihn mit einer Reihe blinkender, piepsender Maschinen, die sich am anderen Ende des Bettes auftürmten. Das lange Haar war kurz geschnitten worden, man hatte ihm den struppigen Bart abrasiert, und eine Deckenlampe warf einen Lichtschein auf ein Gesicht, das so schön war, das es mir fast den Atem nahm.
Jetzt sah ich, dass er kein alter Mann war.
Seine Haut war vom Wetter gerötet, aber glatt, und die langen Wimpern, die halbmondförmige Schatten auf seine Wangen warfen, waren dunkel wie die einer Frau. Ich trat einen Schritt vor, dann noch einen, bis ich vor seinem Bett stand und das Gesicht betrachtete, das ich zwar kannte, aber nicht wahrgenommen hatte. Ein Michelangelo hätte seine weit auseinanderliegenden Augen und seine geschwungenen Lippen nicht schöner modellieren können.
Die langen, dunklen Wimpern zitterten, die Augenlider hoben sich langsam, und der Raum schien um mich herum schien zu verschwinden, als mein Blick in die Tiefen seiner dunkelblauen Augen fiel. In ihnen erkannte ich eine Seele, die weitaus weiser, tapferer und gütiger war als meine eigene, eine Seele, die vom Leid vernarbt, aber unverdorben war. Einen Augenblick lang sah er mich so vertrauensvoll an, dass mir schien, als sei ich nicht gekommen, um ihn mir anzusehen, sondern um ihn zu retten. Ich stand wie verzaubert da, ohne meine Umgebung wahrzunehmen.
Er blinzelte, einmal, zweimal, lächelte süß wie ein Kind und schloss die Augen wieder.
Wie aus dem Nichts stand Schwester Willoughby an meiner Seite und zeigte auf ihre Armbanduhr. Ich drehte mich zur ihr, als sei ich gerade aus einem Traum erwacht, und sah einen Mann, der hinter der Glaswand stand. Er war groß und gut gebaut – ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig – und ganz in Schwarz gekleidet. Ein schwarzer Rollkragenpullover, schwarze Jeans und eine schwarze Bomberjacke aus Leder. Sein angegrautes, gescheiteltes Haar war schon leicht schütter, dafür trug er einen akkurat geschnittenen Ziegenbart. Seine länglichen, leicht herabhängenden Züge erinnerten mich heftig an einen schläfrigen Bassett.
Schwester Willoughby berührte meinen Arm, und wir verließen das Krankenzimmer. Die junge Schwester sah sich mehrmals um, als wolle sie sich das Gesicht des Stromers ganz genau einprä gen. Ich brauchte keinen weiteren Blick. Der Anblick des Landstreichers war mir so gegenwärtig wie der meines Ehemanns.
»Er hat die Augen aufgemacht«, sagte ich, als ich die Schutzkleidung abstreifte.
»Höchst unwahrscheinlich«, beschied mir Schwester Willoughby.
»Er hat die Augen geöffnet und mir zugelä chelt«, beharrte ich.
»Möglicherweise ein Reflex«, räumte sie ein.
»Ich weiß doch, was ich gesehen habe.«
»Und ich weiß, was mir die Instrumente sagen«, entgegnete sie bestimmt. »Sie wollen, dass es ihm gutgeht, Mrs Shepherd. Das wollen wir alle. Aber etwas zu wollen, genügt nicht. Unser Patient liegt in tiefer Bewusstlosigkeit. Er kann weder auf Ihre Anwesenheit reagieren noch mit Ihnen in Verbindung treten.« Sie streichelte mir über den Arm. »Es war sicherlich nur eine Sinnestäuschung.«
Sie meinte es gut, aber ich
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