Tante Dimity und der Fremde im Schnee
Farm. Sie gehört einer Witwe namens Anne Preston. Sie muss Smitty damals recht gut kennengelernt haben.«
»Und wenn Anne Preston ihn auch für verrückt erklärt, steht es zwei zu eins«, sagte ich gereizt.
»Ich erfinde Smittys Leiden nicht, Mrs Shepherd«, sagte Julian. »Er hat sich selbst fast zu Tode gehungert … und sehen Sie sich das hier an.« Er griff in seine Jackentasche und holte einen fleckigen Wildlederbeutel hervor.
»Was ist das?«, fragte ich und betrachtete den Beutel mit Neugier.
»Schwester Willoughby hat ihn in Smittys Manteltasche gefunden«, sagte Julian. »Sie wollte nicht, dass er irgendwo verschwindet, und gab ihn mir zur Aufbewahrung. Sie hielt den Inhalt wohl für wertvoll.«
»Und ist er das?«
»Urteilen Sie selbst.« Julian zog das Band des Beutels auseinander und leerte den Inhalt auf dem Tisch aus. Eine vielfarbige Mischung militä rischer Ehrenzeichen breitete sich vor mir aus –
Ordensbänder, Medaillen, Spangen und ein kleiner goldener Adler mit ausgebreiteten Flügeln.
Bei seinem Anblick schlug mein Puls schneller.
Tante Dimity war mit einem Kampfpiloten verlobt gewesen, der in der Schlacht um England ums Leben kam. Vielleicht gehörten die Orden jemandem, den Dimity während des Krieges gekannt hatte.
Smitty könnte im Auftrag eines alten Soldaten zum Cottage gekommen sein.
»Ein DSO«, sagte Julian und nahm eine der Auszeichnungen in die Hand. »Der Distinguished Service Order , den Offiziersanwärter in Marine, Armee und Luftwaffe für herausragende Verdienste im Kampf bekamen. Das Band bedeutet, dass der betreffende Luftwaffensoldat die Auszeichnung zweimal bekommen hat.«
Ich sah ihn an. »Woher wissen Sie, dass er bei der Luftwaffe war?«
Anstelle einer Antwort wies Julian auf zwei andere Medaillen. »Das Distinguished Flying Cross , als Auszeichnung für Tapferkeit vor dem Feind. Das Air Force Cross , für Verdienste auf Flügen ohne Feindberührung.«
Ich hob den goldenen Adler hoch. »Und was ist das?«
»Das Pathfinder-Abzeichen«, antwortete Julian. »Die Pathfinder waren die Crème de la crème, Mitglieder einer Elitetruppe, die aus den besten Bomberbesatzungen der Royal Air Force ausgewählt wurden.«
»Bomber«, wiederholte ich nachdenklich und legte den goldenen Adler wieder auf den Tisch.
Von Bomberstaffeln hatte Tante Dimity nie etwas erwähnt, aber sie hatte während des Krieges so viele Leute kennengelernt; sicher waren auch Bomberpiloten dabei gewesen.
Julian strich sich nachdenklich über den Bart.
»Smitty ließ alles, was er besaß, in Sankt Benedikt zurück – bis auf die Dinge, die Sie hier vor sich sehen. Würde ein geistig gesunder Mann sich auf eine solch anstrengende Reise gemacht haben, mit nichts in den Taschen außer einer Hand voll militärischer Abzeichen?«
Ich antwortete mit einer Gegenfrage: »Hat Smitty jemals eine Frau namens Dimity Westwood erwähnt?«
»Die bekannte Wohltäterin?« Julian schüttelte den Kopf. »Er hat sie nie erwähnt. Sie ist tot, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete ich und unterdrückte den Zusatz: mehr oder weniger. »Ich kannte sie jedoch sehr gut. Ihr gehörte das Cottage, in dem ich wohne.«
»Smitty ist also vor Dimity Westwoods ehemaligem Haus zusammengebrochen.« Julian zuckte mit der Schulter. »Das kann ein purer Zufall sein.«
»Dimity war während des Krieges mit einem Jagdflieger verlobt«, informierte ich ihn. »Sie hat eine Reihe von Piloten kennengelernt. Vielleicht hat Smitty versucht, ihr die Orden eines anderen zu überbringen, den sie damals kannte – ohne zu wissen, dass sie tot ist.«
»Aber wessen Orden?«, sagte Julian. »Und warum die Eile?«
Mein Blick senkte sich auf den Tisch. »Ich weiß es nicht.«
»Ich auch nicht«. Julian zögerte. »Aber vielleicht weiß es Anne Preston.« Fast flehentlich hob er die Hand. »Ich bitte Sie, Mrs Shepherd, begleiten Sie mich. Bis zur Blackthorne Farm und wieder zurück benötigen wir vier Stunden. Sie sind rechtzeitig zum Abendessen wieder zu Hause.«
»Wieso brauchen Sie mich dabei?«, fragte ich.
Seine Beharrlichkeit erstaunte mich.
»Weil Sie sich Sorgen um Smitty machen«, antwortete Julian. »Weil Anne Preston Ihnen vielleicht Dinge mitteilen kann, die sie mir vorenthalten würde.« Er hielt kurz inne, bevor er mir seine wahren Beweggründe offenbarte. »Und weil ich römisch-katholischer Priester bin. In diesem Land werden wir nicht immer mit offenen Armen empfangen.«
»Aber …«, fast hätte ich gesagt: Sie sehen
Weitere Kostenlose Bücher