Tante Dimity und der Fremde im Schnee
antwortete umgehend: Dann musst du nach London fahren .
Mein Blick glitt zweifelnd über ihre Worte.
»Und was wird aus der Familientradition?«
Familientraditionen bedeuten gar nichts , wenn man nicht mit dem Herzen dabei ist . Dein Herz ist derzeit offensichtlich anderweitig beschäftigt .
»Es geht nicht um mein Herz«, entgegnete ich.
»Es geht um Kit. Ich fürchte mich nur vor William. Er wird meine Reise keineswegs gutheißen.«
Wenn diese Mission so wichtig für dich ist , wie du sagst , wird William Verständnis zeigen .
Aber eines möchte ich doch wissen , um meines eigenen Seelenfriedens willen .
»Was denn?«, sagte ich.
Warum ist er so wichtig für dich?
Ich drückte die Hand gegen die Schläfe, um das Anschwellen des heulenden Windes zurückzudrängen, und schloss das Tagebuch.
Es erwies sich, dass sowohl Dimity als auch ich Recht behalten sollten. Willis senior war alles andere als glücklich, als er erfuhr, dass ich mich mit Julian in London treffen wollte, aber er bezweifelte nicht, dass es mir ein echtes Anliegen war.
Er zeigte im Gegenteil so viel Verständnis, dass ich nicht einmal gegen seine einzige Bedingung protestierte.
»Du wirst mit dem Zug nach London fahren«, erklärte er kurz angebunden. »Mein Sohn würde es mir nie verzeihen, wenn ich dir erlaubte, mit dem Auto zu fahren.«
16
ICH WUSSTE, DASS Julian mich mit Sankt Christophorus nach Hause bringen würde. Daher ließ ich mich am nächsten Tag von Derek Harris nach Oxford mitnehmen. Er hatte dort ein Gespräch über ein Bauprojekt. Er setzte mich am Bahnhof ab, und ich stürzte mich in das Gewühl.
Nur noch zwei Einkaufstage bis Weihnachten, das bedeutete, dass langsam Panik einsetzte. Der Zug nach London war übervoll, und Paddington Station glich einem Ameisenhügel hektischer Last-Minute-Shopper. Ich presste Kits Reisetasche an mich, umklammerte den Gurt meiner Schultertasche und kämpfte mich durch die Menge, bis ans Ende einer schier endlosen Schlange am Taxistand. Eine gute halbe Stunde später befand ich mich auf dem Weg zur Sankt-Joseph-Kirche.
Der Taxifahrer, ein Inder, kannte Sankt Joseph gut. »Um die Ecke wohnt meine Schwester«, sagte er und warf mir einen Blick über den Rückspiegel zu, der so viel besagte wie: ›Warum treibt sich eine amerikanische Touristin am Tag vor Heiligabend im schäbigen Stadtteil Stepney herum, anstatt in den heiligen Hallen von Harrod’s zu wandeln?‹ »Sind Sie auch sicher, dass Sie da hin wollen?«
Ich bestätigte es ihm.
Die Fahrt schien endlos. Die schmalen Straßen des East End, die schon zu normalen Zeiten am Verkehr zu ersticken drohten, hatten sich in einen einzigen, sich unendlich langsam fortbewegenden Parkplatz verwandelt. Menschen jeder Hautfarbe und Nationalität bevölkerten die Bürgersteige und strömten durch die Straßen, während wir an hell erleuchteten Geschäften vorbeikrochen, deren Leuchtreklamen und Beschriftungen ich nicht einmal einer Nationalität zuordnen konnte.
»Schon wieder Schnee heute Nacht«, sagte der Fahrer, als wir an einer roten Ampel hielten.
»Seit ich hier bin, hab ich nicht so viel Schnee gesehen. Ich wünschte, ich wäre zu Hause.« Resigniert fuhr er an, als die Ampel umsprang.
Schließlich bogen wir in eine schwach beleuchtete Straße ein, die von hohen Mietshäusern gesäumt wurde. Ich schaute hinauf zu einem einsamen Fenster, in dem Weihnachtslichter blinkten, und zog unwillkürlich den Kopf ein, als ein paar Schneebälle auf dem Dach des Taxis landeten. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter und blaffte zwei picklige Teenager an, die mit den üblichen Gesten antworteten und schließlich in einer dunklen Gasse zwischen zwei Häusern verschwanden. Ihr manisches Gelächter hallte zu uns in den Wagen hinein.
»Das ist hier keine Gegend für Sie, Misses«, sagte der Fahrer und kurbelte das Fenster wieder nach oben.
»Wenn wir Sankt Joseph erreicht haben, ist alles in Ordnung«, versicherte ich ihm. »Ich bin mit dem Vikar verabredet.«
»Ah, Vater Raymond.« Der Fahrer nickte.
»Ein guter Mann. Zu gut für diese Gegend. Ich sage dauernd zu meiner Schwester, zieh hier weg.
Und, meinen Sie, sie hört auf mich? Nein, tut sie nicht. Da wären wir, Misses.«
Und in der Tat, vor uns erhob sich Sankt Joseph, ein viktorianischer Backsteinklotz, von drei Seiten mit zwei Meter hohen Mauern umgeben und von Sicherheitsscheinwerfern erhellt. Die Kirche war potthässlich. Die Mauern waren vom Ruß geschwärzt und von protzigen
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