Tante Dimity und der Fremde im Schnee
Raywood eine Tasse Tee ein. An der Hackordnung in Sankt Joseph bestand nicht der geringste Zweifel.
»Normalerweise würde ich Sie natürlich ins Pfarrhaus bitten«, sagte Vater Raywood, nachdem er Platz genommen hatte. »Aber dieser Ort ist viel geeigneter, um über Christopher Smith zu sprechen. Denn wissen Sie, ohne seine Hilfe wä ren wir keineswegs so erstklassig ausgestattet.«
»Er … hat bei der Einrichtung geholfen?«, fragte Julian.
»Das meine ich natürlich nicht.« Vater Raywood schien die Vorstellung geradezu lächerlich zu finden. »Er hat sie bezahlt .«
Vater Danos schien zu spüren, dass sich eine gewisse Verwirrung breitmachte, und schritt ein.
»Vater, vielleicht sollten wir unseren Gästen davon berichten, wie wir in Berührung mir Mr Smith kamen …«
»Nun gut, nun gut, also von Anfang an.« Vater Raywood nippte an seinem Tee und betupfte die Lippen mit einer Stoffserviette.
»Christopher Smith«, begann er, »kam vor vier Jahren nach Sankt Joseph, im Februar.
Schnee lag an jenem Abend in der Luft, genau wie heute. Erinnern Sie sich, Andrew?«
»Als ob es gestern wäre«, sagte Vater Danos.
»Wir kämpften damals um den Erhalt unserer Suppenküche«, erklärte er. »Wir sind keine reiche Gemeinde, dafür nehmen immer mehr Menschen unsere Dienste in Anspruch, besonders im Winter.«
»Christopher Smith saß an einem Ecktisch am anderen Ende des Saals«, fuhr Vater Raywood fort. »Er aß nichts, beobachtete lediglich die anderen Männer. Ehrlich gesagt, er irritierte mich.
Er wirkte zerstreut und passte vor allem überhaupt nicht hierher.«
»Wieso nicht?«, fragte ich.
Vater Raywood fand meine Frage offenbar sehr seltsam. »Nun, die Männer, die unsere Suppenküche frequentieren, haben in der Regel keinen Schneider in der Saville Row.«
»Er war gut gekleidet?« Ich erinnerte mich an Anne Somervilles Behauptung, dass Kit aus einer reichen Familie stamme.
»Er war ausgesprochen gut gekleidet«, bestä tigte Vater Raywood. »Und ausgesprochen gut aussehend war er auch. Seine Hände waren manikürt, das Haar frisch geschnitten – er war offensichtlich ein wohlhabender Mann.« Er runzelte die Stirn. »Wie gesagt, eben das irritierte mich, und ich bat Andrew, ihm etwas auf den Zahn zu fühlen.«
»Ich fragte ihn, ob ich irgendetwas für ihn tun könne«, fuhr Vater Danos fort. »Und er schaute zu mir auf.« Die Miene des Priesters verdunkelte sich. »Dieser Blick, so als habe er das Einzige verloren, was er auf der Welt noch liebte. ›Nein‹, antwortete er. ›Sie können nichts für mich tun.
Gar nichts.‹«
»Sie erinnern sich noch an den genauen Wortlaut?«, fragte Julian.
»Ich werde seine Worte nie vergessen. Seine Stimme war … betörend. Und sehr traurig.« Vater Danos zögerte einen Augenblick, bevor er fortfuhr. »Er stand auf und wollte gehen, doch dann fragte er mich, ob unsere Kirche dem Heiligen Joseph von Copertino geweiht sei. Ich antwortete, nein, unser Joseph sei der Mann der Heiligen Jungfrau Maria. ›Also habe ich mich da auch geirrt‹, murmelte er und verschwand.«
Vater Raywood warf seinem Assistenten einen fast mitleidigen Blick zu. »Die Begegnung schien Andrew sehr verunsichert zu haben …«
»Ich hatte das Gefühl, versagt zu haben«, warf Vater Danos ein. »Seine Augen, seine Stimme, seine ganze Erscheinung strahlten eine solche Verzweiflung aus, dass ich ihm hinterherlief, um ihm seelsorgerischen Beistand anzubieten. Aber das Einzige, was er annahm, war ein Gebetbuch.« Der junge Priester schaute auf seinen Tee, den er nicht angerührt hatte. »Ich hoffe, dass er darin einen gewissen Trost gefunden hat.«
»Das muss er wohl«, meinte Vater Raywood trocken. »Denn sechs Monate später traf ein Scheck bei uns ein, ausgestellt von Christopher Smith. Es handelte sich um eine enorme Summe.
Ein beigelegtes Schreiben besagte, dass es sich dabei um die Bezahlung für das Gebetbuch handele. Der restliche Betrag solle für die Speisung der Notleidenden verwendet werden.«
»Ich war wie vom Donner gerührt«, sagte Vater Danos. »Und Vater Raywood zerbrach sich den Kopf wegen dieser Schenkung.«
Der ältere Priester seufzte. »Es handelte sich meiner Meinung nach um eine äußerst extravagante Geste, und ich hatte nicht vergessen, wie zerstreut er an jenem Abend des Gespräches mit Andrew gewirkt hatte. Ich befürchtete, er könne
… non compos mentis sein, nicht zurechnungsfähig. Wenn er an einer psychischen Störung gelitten hatte, als er den
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