Tante Dimity und der Fremde im Schnee
jeden Moment hereinkommen, um uns rauszuschmeißen.«
»Das bezweifle ich.« Er knüpfte das schwarze Band auf und nahm das Manuskript in die Hand. »Lady Havorford hätte uns niemals mit den Memoiren ihres Vaters allein gelassen, wenn sie nicht gewollt hätte, dass wir einen Blick hineinwerfen.« Er betrachtete das Deckblatt und ging die ersten Seiten durch. Nach einer kurzen Weile jedoch presste er den Stapel an seine Brust und schaute mit fast schmerzverzerrtem Gesicht zu dem vergoldeten Balkon hinauf.
»Julian!« Ich eilte zu ihm. »Was ist los?«
Er zeigte auf das Blatt, das er beiseitegelegt hatte. »Lesen Sie den Sinnspruch, den Sir Miles ausgewählt hat.«
Das Zitat stand in kaum leserlicher Handschrift auf einem unlinierten und nicht nummerierten Stück Papier.
Sobald Menschen beschließen , dass bei der Bekämpfung des Bösen alle Mittel erlaubt sind , lässt sich ihre Güte nicht mehr von dem Bösen unterscheiden , das sie zerstören wollten .
The Judgement of Nations (1942) Ich sah Julian an. »Das klingt wie etwas, das Kit ihm gesagt haben könnte.«
»Ich bete zu Gott, dass es nicht so war«, sagte Julian düster. »Hier, sehen Sie sich die nächste Seite an.«
Er zeigte mir die Fotokopie eines Fotos, auf den ersten Blick eine abstrakte Komposition in Schwarz-Weiß, verschwommene Flecke und kleine Lichtpunkte vor einem körnigen grauen Hintergrund. Eine Bildunterschrift in der gleichen, schwer zu entziffernden Handschrift wie der Sinnspruch lieferte die Informationen. Der erste Angriff der R . A . F . auf Hamburg , 24 . Juli , 1943 , Blitzlichtaufnahme .
»Es ist der Feuersturm von Hamburg«, erläuterte Julian. »Von der Unterseite eines Bombers aus gesehen. Die Punkte sind Brandbomben, die verschwommenen Flecke zeigen die Stellen an, wo das Feuer bereits wütet.« Er legte den Papierstapel auf den Schreibtisch. »Sehen Sie sich die nächsten Seiten an.«
Sir Miles’ Memoiren enthielten kaum Text.
Stattdessen zeigte sich auf jeder Seite ein neues Foto, eines von vielen, die er zweifellos bei seinen langen Besuchen im Imperial War Museum kopiert hatte.
Einige der Bilder ähnelten dem ersten, es waren aus dem Flugzeug aufgenommene Fotos von brennenden Städten, aber die meisten zeigten deutlichere Szenen: verkohlte Leichen, weinende Frauen, qualmende Ruinen. Die Unterschriften zu den zerstörten Gebäuden riefen die jeweiligen Leidensstationen auf: Entbindungskrankenhaus , Berlin , Heiliger-Geist-Kirche , München , Flüchtlingslager , Dresden und so weiter, auf über 400
Seiten. Ich sah mir die Bilder an, bis ich es nicht mehr ertragen konnte.
»Das sind keine Memoiren«, sagte ich. »Das ist ein Albtraum.«
»Es ist ein Selbstporträt«, meinte Julian.
»Damit wollte er sich seinem Sohn erklären.«
»Welcher Vater würde seinem Sohn so etwas antun?«, fragte ich. »Das ist die Hölle.«
»Dann stellen Sie sich vor, wie die Hölle in seinem Kopf ausgesehen hat, in dem diese Bilder unablässig auftauchten«, sagte Julian. »Er hat sie in seinen Träumen gesehen und am Tag, und er wusste, dass er daran beteiligt war.« Ziellos ging er in die Mitte des Raums und drückte die Finger gegen die Schläfen, als könne er die furchtbaren Bilder so vertreiben.
Ich legte die Blätter des Manuskripts wieder zusammen, band es wieder zu und legte es auf den Platz, an dem es Lady Havorford hatte liegen lassen. »Glauben Sie, dass Sir Miles ein Ungeheuer war?«
»Er war ein Mann mit einem Gewissen, der gezwungen wurde, gewissenlose Dinge zu tun.«
Julians Hände fielen schlaff herunter, sein Blick wanderte zu dem güldenen Tisch. »Seine Orden müssen ihn geschmerzt haben wie eine Dornenkrone. Während seine Kinder überall mit seiner Tapferkeit prahlten, brütete er über die Kinder, die sterben mussten. Ich habe so etwas schon gesehen«, fuhr er fort, »bei einigen der Veteranen, die in Sankt Benedikt enden, nachdem sie jahrelang versucht haben, ihre Erinnerungen mit Alkohol und Drogen auszulöschen.«
Ich dachte an die beiden Stromer, Ruperts Kumpel, die mir in der Preacher’s Lane salutiert hatten. »Was können Sie für diese Männer tun?«
»Ich kann ihnen etwas zu essen geben, ihnen zuhören und sie daran erinnern, dass Gott auch sie liebt. Manchmal …«
Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Natürlich kann ich Selbstmord nicht gutheißen, aber ich frage mich natürlich, wie ein Mann damit leben kann, dass er den Angriff auf Dresden eingeleitet hat.« Er schaute noch einmal zum
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