Tante Dimity und der Fremde im Schnee
sah, mindestens ebenso deutlich wie die Bilder in Sir Miles’
Memoiren. Ich stellte den Korb auf den Boden und wandte mich an Julian. »Habe ich Ihnen schon erzählt, dass mein Vater Soldat war?«
»Nein«, sagte Julian. »Davon haben Sie nie gesprochen.«
»Er ist in der Normandie, am Omaha Beach gelandet«, sagte ich. »Und ist mit seiner Truppe bis nach Berlin marschiert. Es gibt ein Foto von ihm …« Ich schaute auf die schneebedeckte Landschaft hinaus und sah stattdessen die schneebedeckten Ruinen einer vom Krieg verwüsteten Stadt in körnigem Schwarz-Weiß. »Es ist Weihnachten in Berlin, kurz nach Ende des Krieges. Er steht da in seiner GI-Uniform und gibt ein paar deutschen Kindern Geschenke.
Nichts Besonderes, Schokolade, Strümpfe und solche Dinge. Aber die glücklichen Gesichter der Kinder – sie sehen aus, als hätten sie noch niemals schönere Geschenke bekommen.«
»Das hört sich an, als hätten sie keine Probleme damit gehabt, an den Weihnachtsmann zu glauben«, sagte Julian.
»Darauf will ich ja hinaus.« Ich glaubte beinahe, das Lachen der Kinder zu hören, die von meinem Vater beschert wurden. »Sehen Sie, Julian, das kann ein guter Mensch tun, wenn der Krieg vorbei ist. Er hilft mit, eine bessere Welt aufzubauen. Er prahlt nicht mit seinen Taten, er brütet auch nicht darüber. Er schnappt sich einen Seesack und verteilt Geschenke an die Kinder des Feindes. Er hilft ihnen, wieder an den Weihnachtsmann zu glauben.« Verlegen rieb ich mir die Nase, weil mich meine eigene Ernsthaftigkeit erstaunte. »Es ist nicht direkt das Gleiche, wie die UNO gründen, aber …«
»Aber eine bessere Welt beginnt mit guten Taten, auch wenn sie unscheinbar sind.« Julian blickte auf die Reisetasche. »Kit würde das verstehen.«
»Das stimmt«, sagte ich eifrig. »Kit hat sich von der Verzweiflung nicht besiegen lassen. Sein Vater mag ihm ein dunkles Erbe hinterlassen haben, aber Kit zog es vor, eine Kerze zu entzünden. Wohin er kam, entzündete er diese Kerzen, in Form von guten Taten.«
Julian zögerte, bevor er die Reisetasche öffnete und das Ährengeflecht aus einer Seitentasche zog. »Wie zum Beispiel, einer trauernden Witwe zu helfen«, sagte er. »Oder ein miserabel geführtes Krankenhaus schließen zu lassen.« Er nahm den Ausweis der Heathermore-Klinik in die Hand.
Ich betrachtete das Foto, Kit mit seinem wilden Haarschopf und den gütigen, intelligenten Augen. »Oder sein Erbe dazu zu benutzen, den Hungernden Nahrung zu geben.«
»Oder sein Leben zu riskieren, um das eines anderen zu retten«, fügte Julian mit rauer Stimme hinzu.
Ich spürte einen gewissen Selbstzweifel in seiner Stimme und sagte: »Oder sich abzumühen, um ein Obdachlosenheim in Gang zu halten. Den Menschen zu helfen, die selbstsüchtige Idioten wie ich am liebsten ignorieren würden.«
Langsam glitt ein Lächeln über sein Gesicht.
»Oder dort Güte zu sehen, wo ein neidischer Narr wie ich nur Wahnsinn sehen wollte.«
Ich hob die Augenbrauen. »Ich glaube nicht, dass es Kit gefallen würde, wenn wir in Depressionen versinken.«
»Das wäre sicherlich das Letzte, was er will.«
Julian verstaute das Ährengeflecht und den Ausweis wieder in der Reisetasche und sah mich an.
»Wir werden Heiligabend auf seine Gesundheit anstoßen und Weihnachten für ihn beten.
Wir werden Licht in die Finsternis bringen. Das ist es, was Kit von uns will.«
»Darum geht es doch bei Weihnachten«, sagte ich. »Es geht um ein Kind, das ein Licht der Hoffnung in der Dunkelheit entzündet.«
»Sehr schön gesagt, Madam«, meldete sich Paul von vorne. »Aber vergessen wir die Geschenke nicht. Weihnachten ohne Geschenke, das wäre doch kein Weihnachten, ist’s nicht so?«
Ich grinste ihm im Rückspiegel zu. »Nein, Paul, das wäre es nicht. Ich hoffe, Ihnen gefällt, was Bill und ich für Sie ausgesucht haben.«
»Für mich?«, sagte Paul. Seine Augen leuchteten vor Freude. »Aber das wäre doch nicht nötig gewesen …«
Seine Reaktion, so typisch für Weihnachten wie die Lieder, vertrieb die letzten grauen Wolken. Mit einem Lächeln auf den Lippen und den Erinnerungen an alte Zeiten legten wir den Rest des Weges bis Oxford zurück. Über die unzähligen Tragödien des Krieges würden wir sicher noch oft grübeln. Heute sollte die Hoffnung herrschen.
21
ICH DRÄNGTE JULIAN, auch zur Party zu kommen – so mickrig sie auch sein mochte –, aber er zog es vor, Heiligabend mit seiner Herde zu verbringen, also setzten wir ihn in Oxford
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