Tante Dimity und der skrupellose Erpresser
Platz genommen hatte. Simon und ich blieben stehen und schauten zu. Niemand sagte etwas.
Lord Elstyn stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch, faltete die Hände zusammen und schlug die Daumen gegeneinander. Er schien sich seine einleitenden Worte zu überlegen, und seiner ernsten Miene nach zu urteilen würde es um wichtige Dinge gehen – wie vielleicht die Enterbung seines einzigen Kindes.
»Ich entschuldige mich dafür, dass ich euch alle zu einer solch unchristlichen Stunde wecken ließ«, begann er. »Aber es hat sich eine Situation ergeben, die uns vielleicht alle betrifft.«
Ginas Augen zogen sich leicht zusammen, so als sei der Earl bereits jetzt von einem besprochenen Text abgewichen. Auch Bill schien etwas überrascht; die anderen warteten einfach ab.
»Ich habe heute Morgen bereits mit meiner Enkelin gesprochen«, fuhr er fort. »Und ich habe höchst bestürzende Tatsachen erfahren.«
Lord Elstyns durchdringender Blick fiel auf meine Schultertasche und wanderte zu meinem Gesicht. Mir wurde ganz mulmig, als er die Hand ausstreckte, und ich hörte das leise Murmeln der anderen, als ich zum Schreibtisch ging, meine Tasche öffnete und ihm die Drahtrolle reichte. Ich war zwar nervös, schwieg aber eisern. Ich wusste nicht, welche Erklärung Nell ihm für die Entdeckung des Drahts geliefert hatte, und ich wollte Kit auf keinen Fall verraten.
Aber der Earl verlangte gar keine Erläuterung von mir. Als ich an meinen Platz beim Kamin zurückgekehrt war, legte er den Draht vor sich auf den Schreibtisch und faltete erneut die Hände zusammen.
»Die Tatsachen, von denen ich spreche, könnten unsere Familie in das harsche Licht der Öffentlichkeit rücken«, sagte er. »Eines möchte ich sofort klarstellen: Ich allein werde für die Familie sprechen. Ich erwarte von euch, dass ihr alles, was ihr zu sagen habt, an mich weitergebt.«
Lord Elstyn räusperte sich, und ich spürte, dass er nun bald auf das eigentliche Thema zu sprechen kommen würde. Ich stellte meine Tasche auf dem Boden ab und betrachtete die Gesichter der anderen. Alle sahen sie den Earl erwartungsvoll an.
»Vor vier Monaten«, sagte er, »erhielt Simon den ersten in einer Reihe von anonymen Drohbriefen, von denen er mir schließlich die ersten drei zeigte …«
Während der Earl die Briefe und die Art der Drohungen genauer beschrieb, zeigte mir Ginas zusehends grimmiger Gesichtsausdruck, dass weder Simon noch Lord Elstyn sie in das Geheimnis eingeweiht hatten.
»Aufgrund einer kleineren medizinischen Auffälligkeit konnte ich mich der Angelegenheit leider nicht mit ganzer Kraft widmen.« Der Earl erwähnte seinen Herzanfall genauso beiläufig, wie ich von einem Schnupfen gesprochen hätte.
»Während ich mich erholte, wog ich verschiedene Theorien gegeneinander ab. Nach einigen Überlegungen entschied ich mich dafür, einen Mann vom Fach zu engagieren, der die Theorien überprüfen sollte.«
Er drückte auf einen Knopf, der auf seinem Schreibtisch angebracht war. Kurz darauf betrat Jim Huang das Arbeitszimmer, mitsamt Laptop und Manuskriptkiste. Der junge Archivar trug einen marineblauen Pullover mit V-Ausschnitt über seinem weißen Hemd und sein Haar war gekämmt, doch seine haselnussbraunen Augen wanderten noch immer so unsicher umher wie bei unserer ersten Begegnung in der Bibliothek.
Er blieb in der Tür stehen, als sei er nicht ganz sicher, willkommen zu sein. Doch dann ging er rasch auf den Schreibtisch zu und stellte Laptop und Kiste darauf ab. Er trat einen Schritt zurück und wartete auf weitere Instruktionen.
»Mr James Huang« – Lord Elstyn hob die Hand, um den Neuankömmling vorzustellen –
»ist der Sohn eines amerikanischen Geschäftspartners. Außerdem arbeitet er für Interpol.«
Mir blieb der Mund offen stehen. Nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir den zierlichen, jungen, scheuen Bücherwurm als Agenten der Internationalen Polizei vorstellen können. Ich sah ihn einfach nicht in das Nest eines Drogenbarons stürmen, eine Automatik in der Hand. » Sie sind Interpol-Agent?«, platzte ich heraus.
Jim war meine unverhohlene Verblüffung so peinlich, dass er rot wurde.
»Ich bin nicht im Außendienst«, erklärte er rasch. »Ich bin in der Abteilung für Dokumentenanalyse.«
Lord Elstyn hielt mich mit einem warnenden Blick von weiteren Bemerkungen ab. »Mr Huang ist ein absoluter Experte für Dokumentenanalyse«, betonte er. »Er hat außerdem Zugriff auf ein weitreichendes Informationsnetzwerk. Mit
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