Tante Dimity und der unheimliche Sturm
Geruch von Pflegeheimen aus der Nase bekommen, meinte sie.«
Sein Blick wanderte zu dem Mosaik. »Das hier würde ihr gefallen. Sie liebt Chaucer.«
Ich reckte den Hals, um einen Blick auf das Buch zu erhaschen, in dem Jamie gelesen hatte, ehe ich seine Lektüre so jäh unterbrach. »Ist das ein Fotoalbum?«
»Genau.« Jamie sah flüchtig zu dem großen Buch, machte aber keine Anstalten, es in die Hand zu nehmen. »Ich habe es in einem der Regale gefunden. Damit habe ich mir die Zeit vertrieben, bis du hier aufgekreuzt bist.«
»Es sieht sehr alt aus«, bemerkte ich.
»Es gehörte den DeClerkes. Ich frage mich, welches Interesse Tessa Gibbs daran hat.«
»Mein Mann sagte mir, dass Tessa das Haus samt Inhalt gekauft hat. Und die Bibliothek zählt wohl zum Inhalt.« Ich streckte die Hand aus.
»Kann ich es mir anschauen? Ich liebe es, Alben aus früheren Zeiten zu durchstöbern. Wenn ich alte Fotos betrachte, fühle ich mich mit der Vergangenheit verbunden.«
»Warum sehen wir sie uns nicht gemeinsam an?« Jamie bedeutete mir, es ihm gleichzutun, als er sich vom Sessel auf den Boden gleiten ließ.
Seite an Seite saßen wir auf dem Orientteppich, blätterten von Zeit zu Zeit eine Seite des alten, in Saffianleder gebundenen Albums um und besahen uns staunend die Fotos. Das Album enthielt Porträts, die allesamt während eines Kostümballs aufgenommen worden waren, der 1897 in der Abtei zu Ehren des diamantenen Jubiläums der Regentschaft von Königin Viktoria veranstaltet worden war.
Die Gäste waren fantasievoll kostümiert, aber besonders faszinierte mich ein Foto, das die Gastgeber zeigte: Grundy DeClerke und seine Frau Rose. Die handgeschriebene Bildlegende darunter erklärte ihre Kostümierung: Sie personifizierten Tag und Nacht. Doch ihre Kostüme waren so aufwändig und kostbar, dass sie auch ebenso gut als Demonstration des Reichtums gelten mochten, den Grundy angehäuft hatte, indem er »Unaussprechliche« an die Armee Ihrer Majestät verkaufte. Grundys kurzes Cape, das Wams und der flache Hut waren aus edelsteinbesetztem schwarzem Samt geschneidert – sogar seine schwarzen Strümpfe waren mit Perlen besetzt.
Rose hätte sogar der Sonne Konkurrenz machen können. Aus ihrem glitzernden Diadem ragten Straußenfedern hervor, juwelenbesetzte Armbänder schmückten ihre stämmigen Handgelenke, ihr Mieder wurde von zwei glänzenden Broschen zusammengehalten, ihre fleischigen Finger waren mit Ringen beladen, und von ihren Ohrläppchen baumelten tränenförmige Diamanten von der Größe meines Daumennagels. Über einem weißen Kleid mit wespenförmiger Taille trug sie ein ausladendes weißes Samtcape mit Hermelinbesatz. Ihr tiefes Dekolleté enthüllte fast vollständig ihren üppigen Busen, aber ihre körperlichen Reize wurden noch überboten von dem atemberaubenden Halsschmuck, der sich wie ein Wasserfall aus Diamanten von ihrem Halsband über den Busen ergoss.
Halsband wie auch Diadem imitierten die Form eines Fächers aus Pfauenfedern, und zu Füßen des Paares posierte ein Pfauenpaar, wie als Bildunterschrift zu dem dargestellten Thema. Die Vögel standen aufrecht da, die langen Schwanzfedern kunstvoll über den Marmorboden drapiert und die kleinen, spitzen Schnäbel selbstgefällig in die Kamera gerichtet, so als wären sie sich nicht bewusst, dass sie die zweite Geige in der Komposition spielten.
»Letztes Halloween bin ich als Katze gegangen«, sagte ich mit einem Seufzer. »Wie die Zeiten sich geändert haben.«
»Nein, der Geltungsdrang ist nicht mehr das, was er einmal war«, sagte Jamie zustimmend und blätterte zur nächsten Seite. »Schau, hier sind ihre Söhne.«
Interessiert betrachtete ich die vier Jungen auf dem sepiafarbenen Bild, die allesamt als mittelalterliche Knappen kostümiert waren. Bald sollten drei von ihnen, wie ich wusste, tot im Schlamm von Flandern liegen. Jahre später würde der vierte sein Leben im Blitz verlieren, eine Tochter hinterlassend, die eines Tages den Verstand verlieren sollte.
»Ich frage mich, was Lucasta zugestoßen ist«, murmelte ich. Einen Moment lang hatte ich vergessen, dass ich Miss DeClerkes Vornamen von einer streng geheimen Quelle erfahren hatte.
»Lucasta?«, fragte Jamie prompt und klappte das Album zu. »Wer ist Lucasta?«
»Miss DeClerke.« Ich versuchte meinen
Schnitzer dadurch zu kaschieren, indem ich vorgab, dass Catchpole den Namen auf dem Weg zu meinem Zimmer erwähnt hatte. »Warum ist sie wohl verrückt geworden?« Ich zog die
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