Tante Dimity und der unheimliche Sturm
wär’s, Lori, wenn wir beide in die Bibliothek gehen, um nach einem Buch über im Sonnenlicht gleißende Strände zu suchen? Wendy, willst du ebenfalls mitkommen?«
»Nein, danke. Ich werde ein Bad nehmen und anschließend einen Mittagsschlaf halten.«
»Ein Mittagsschlaf hört sich gut an«, sagte ich und wich Jamies Blick aus. »Tut mir leid, Jamie, aber ich fürchte, meine Polarexpedition fordert ihren Tribut.«
»Gott sei Dank.« Jamie lehnte sich gegen die Spüle. »Ich hatte tatsächlich gehofft, heute Nachmittag die Gelegenheit zu bekommen, mich aufs Ohr zu legen, wollte dich aber nicht enttäuschen.«
»Ich bin keineswegs enttäuscht, wie du siehst«, erwiderte ich lachend. »Und du brauchst Schlaf. Die Stille gestern Nacht hat ihn nämlich wach gehalten«, fügte ich erklärend zu Wendy hinzu. »Doch statt sich heute Morgen nochmals hinzulegen, hat er es vorgezogen, in der Küche auf meine Rückkehr von Catchpole zu warten.«
»Scheint der perfekte Babysitter zu sein«, bemerkte Wendy trocken. »Ich werde wahrscheinlich auf das Abendessen verzichten«, fügte sie hinzu, während sie zur Tür ging, »also macht euch nicht die Mühe, mich zu rufen.«
»Wirst du heute Abend nicht hungrig sein?«, rief Jamie ihr nach.
»Ich habe noch allerlei Müsliriegel und der-gleichen in meinem Rucksack«, erwiderte sie.
»Das wird mir bis zum Frühstück reichen.«
»Hoffentlich erstickt sie an dem Zeug«, entfuhr es mir in dem Moment, als die Tür hinter ihr zufiel. »Ein Babysitter …«, schnaubte ich.
»Sie kann sich ihre schnippischen Bemerkungen einfach nicht verkneifen.«
Jamie zuckte die Schultern. »Nicht jeder ist so sanftmütig wie du, Lori.«
»Sanftmütig? Ich? Wohl kaum«, sagte ich er-rötend. »Aber wenn du darunter verstehst, dass ich nicht bei jeder Gelegenheit mit Beleidigungen um mich werfe, dann magst du recht haben. Was ist eigentlich los mit ihr? Als wir uns hier begeg-neten, war sie anfangs ja ganz nett, aber seither hat sie sich in eine streitsüchtige Zicke verwandelt.« Ich sah nachdenklich in Jamies seelenvolle Augen und betrachtete seine zerzausten Locken, die ihn noch attraktiver machten. »Vielleicht ist es wegen dir. Vielleicht will sie dir imponieren –
indem sie mich lächerlich macht, um sich selbst in ein vorteilhafteres Licht zu rücken. Manche Frauen legen ein stutenbissiges Verhalten an den Tag, sobald ein attraktiver Mann in ihrer Mitte aufkreuzt.«
»Unsinn«, sagte Jamie. »Wenn du mich fragst, ist sie einfach nur frustriert, weil sie unfreiwillig ihren Trip unterbrechen musste.«
»Wenn du mich fragst, ist sie eine schreckliche Nervensäge«, sagte ich erregt.
»Du solltest dich nicht in deinen Groll hinein-steigern. Ansonsten bringst du dich noch um deinen Mittagsschlaf.« Jamie deutete auf meine leere Kohlenschütte und nahm mich bei der Hand. »Komm, Lori. Wir füllen im Kohlenkeller deinen Eimer auf, dann geht jeder auf sein Zimmer, wo wir hoffentlich schönere Gedanken haben werden.«
Das Bild von Wendy Walker hinter den Git-tern eines Hochsicherheitsgefängnisses zauberte ein grimmiges Lächeln auf meine Lippen, ich be-hielt die Vision jedoch für mich. Es war sicherlich nicht die Art von Gedanken, auf die Jamie anspielte.
12
JAMIE BESTAND DARAUF, die schwere Kohlenschütte auf mein Zimmer zu tragen. Er bat mich, an seine Tür zu klopfen, sobald ich meinen Nachmittagsschlaf beendet hätte, sodass wir unsere Verabredung in der Bibliothek am späteren Nachmittag wahrnehmen könnten. Er war bestimmt bald eingeschlafen, ich wartete aber vorsichtshalber, ehe ich den Kopf aus der Tür streckte, um zu sehen, ob die Luft rein war.
Aus dem Badezimmer drang das Geräusch von laufendem Wasser. Als es aufhörte, wartete ich abermals ein paar Minuten, um Wendy Zeit zu geben, es sich in der Badewanne bequem zu machen, dann knipste ich meine kleine Taschenlampe an und ging bis zum oberen Treppenabsatz der Haupttreppe, in der Hoffnung, dass niemand das winzige Geräusch vernahm, das meine hirschledernen Slipper auf dem dickflorigen Läufer verursachten.
Als ich bei der Treppe war, wandte ich mich zu der gegenüberliegenden Wand und drückte mit dem Handballen gegen das Eichenpaneel.
Erschrocken machte ich einen Satz zurück, als eine Tür geräuschlos nach außen aufsprang und den Blick auf eine breite Treppe freigab, die mit einem grauen Teppich belegt war. Die Wände waren weiß getüncht, und das Geländer war aus einfachem Holz. Die Treppe führte offensichtlich
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