Tante Dimity und der unheimliche Sturm
nicht nur auf den Dachboden, sondern auch hinab ins Erdgeschoss.
»Die Treppe der Bediensteten«, murmelte ich und erinnerte mich daran, dass Catchpole mir gesagt hatte, dass er diese Treppe benutzt hatte, um die anderen beiden auf ihre Zimmer zu begleiten. Wendy hatte sich wahrscheinlich gemerkt, dass die verborgene Tür zur Bedienstetentreppe führte, die sie später am Abend dann hinaufstieg, um zu sehen, ob sich oben auf dem Speicher ein Paradies für Einbrecher befand.
Ich warf nochmals einen verstohlenen Blick den Flur zurück, ehe ich auf den Treppenabsatz trat und die mit einer Springfeder ausgestattete Tür hinter mir zuzog. Das Stiegenhaus wurde spärlich von einem von oben herabsickernden grauen Licht beleuchtet, und ich schaltete die Taschenlampe aus, ehe ich die Treppe hinaufstieg. Von Zeit zu Zeit blieb ich stehen, um eine Serie von gerahmten Filmplakaten zu betrachten, die an der weißen Wand hingen. Die Plakate stellten nicht etwa die cineastischen Triumphe von Tessa Gibbs dar, sondern klassische Szenen von britischen Streifen aus den Vierzigern und Fünfzigern.
Hatte Lucasta DeClerke Devotionalien aus der Filmwelt gesammelt?, fragte ich mich. Wenn dem so war, dann hatte sie einen guten Geschmack gehabt, wie ich fand. Auch wenn die grellen Farben und drastischen Szenen auf den Plakaten in der düsteren Umgebung von Ladythorne fehl am Platz wirkten, kannte ich mich mit Sammelobjekten gut genug aus, um zu wissen, dass die Plakatsammlung als Ganzes ein kleines Vermögen wert sein musste.
Ich hatte ziemlich viel Zeit meines Lebens damit verbracht, auf der Suche nach alten Büchern auf Dachböden von Herrenhäusern herumzustö bern, und meinte zu wissen, was mich auf dem Speicher von Ladythorne erwarten würde: ein Gewirr düsterer Räume, in denen sich Schiffskoffer, Hutschachteln, ausrangierte Möbelstücke und allerlei Krimskrams stapelten, und hoch oben an den Wänden ein paar wenige Gitterfenster, die für ein wenig Luftzirkulation sorgten.
In keiner Weise war ich deshalb auf die unendliche weiße Leere gefasst, die meine Augen erblickten, als ich am oberen Treppenabsatz angekommen war. Ein makelloser, moderner Durchgang erstreckte sich zu beiden Seiten der Treppe, so weit, dass der Lichtkegel meiner kleinen Taschenlampe nicht ausreichte, um zu erkennen, wo der Flur endete. Der Korridor war etwa anderthalb Meter breit und schien sich über die gesamte Länge der Abtei hinzuziehen, von den Bogengängen bis zum Glockenturm.
Die Wände des Korridors waren ebenso weiß wie die abgehängte Decke und der Teppichboden. Die gewölbten Deckenlampen, die in gewissem Abstand in die Decke eingelassen waren, hatten eine weiße Fassung und Lampenschirme aus Milchglas. Die einzige Unterbrechung in der öden Wüste aus Weiß waren die einfachen silbernen Türgriffe, die ebenfalls in regelmäßigen Abständen an der inneren Wand angebracht waren und auf Türen hindeuteten, die man ansonsten übersehen hätte. Die Ausstattung dieses Flurs war also puristisch, anonym und revolutionär antiseptisch – ein minimalistischer Albtraum, und ich bezweifelte stark, dass Lucasta DeClerke etwas damit zu tun hatte.
Die Stille in dem Korridor war bedrückend –
es war nicht so sehr das völlige Abhandensein von Geräuschen, sondern die Negation dessen –, so als wären die Wände zu dem Zweck erbaut worden, jedes Geräusch, das durch die Dachluken hereindringen könnte, im Keim zu ersticken.
Irritiert von der undurchlässigen Stille wandte ich mich nach links, öffnete die erste Tür und betrat vorsichtig den dahinterliegenden Raum.
Das dünne graue Licht flutete hinter mir herein.
Einen Moment lang brauchte ich, um mich zurechtzufinden, doch dann riss ich ungläubig die Augen auf. Ich stand in einer Art Filmvorführraum. Dreißig gut gepolsterte Kinosessel reihten sich in Stufen von einer weißen Leinwand nach oben; an der Rückwand war ein viereckiges Fenster angebracht, durch das man mehrere Filmprojektoren sah. Die Einrichtung machte einen brandneuen Eindruck und schien ein Vermögen gekostet zu haben.
»Tessa«, sagte ich laut und verspürte eine noch tiefere Bewunderung für die Schauspielerin, als ich sie ohnehin schon hatte.
Tessa Gibbs hatte offensichtlich eine höchst elegante Lösung des Problems gefunden, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Sie hatte Ladythorne nicht nur als historisches Baudenkmal erhalten, sondern auch den unauffälligsten Teil des Gebäudes für ihre eigenen Zwecke umgestaltet,
Weitere Kostenlose Bücher