Tante Dimity und der unheimliche Sturm
Schnee von dem übergroßen blauen Parka klopfte und dann die warme Küche betrat.
Als ich Jamie erblickte, lächelte ich. Er saß dö send in einem Windsor-Stuhl, den er an den Herd herangezogen hatte, das Kinn auf der Brust und ein aufgeschlagenes Buch im Schoß. Mein übermüdeter Beschützer hatte offensichtlich beschlossen, auf einen gesunden Schlaf in seinem Bett zu verzichten, um sich stattdessen von meiner sicheren Rückkehr zu vergewissern. Angenehm berührt von dem noblen Opfer, das er auf sich nahm, bemühte ich mich, auf Zehenspitzen die Küche zu durchqueren, doch es war vergeblich.
Jamie setzte sich auf, blinzelte, rieb sich die Augen und starrte mich an.
»Ich war drauf und dran, die Suchhunde loszuschicken«, sagte er, indem er auf seine Armbanduhr tippte wie ein ungehaltener Vater, der auf seine Tochter gewartet hatte. »Mittag ist schon vorbei: Du warst drei Stunden weg.«
»Glaubst du etwa, es sei ein harmloser Spaziergang zu Catchpoles Cottage?«, erwiderte ich.
»Ich muss an die vierzig Minuten gebraucht haben, um dorthin zu gelangen, und zurück war es auch nicht gerade ein Pappenstiel.« Ich schüttelte den Schnee aus Zipfelmütze und Handschuhen, deponierte beides auf meiner Jacke, hängte den Parka zum Trocknen auf die Rückenlehne eines Stuhls und stellte mich vor Jamie. Reuevoll fügte ich hinzu: »Tut mir trotzdem leid, wenn du dir Sorgen gemacht hast. Wirklich. Es war nett von dir, auf mich zu warten …«
»Ist schon gut«, murmelte Jamie. »Du solltest jedenfalls nicht mehr allein nach draußen gehen.« Er schlug das Buch zu und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, so als ringe er noch immer darum, wach zu werden. »Hast du
Catchpole gefunden?«
»Ja, das habe ich, und es geht ihm gut, Gott sei Dank.« Ich drehte mich um, um meine kalten Hände über dem Herd zu wärmen. »Ich habe trotzdem keine Ahnung, wie er gestern Nacht den Weg zurückgefunden hat. Die Schneewehen sind so hoch, dass eine Kleinstadt darin versinken könnte. Er muss zäh wie Leder sein.«
»War er erfreut, dich zu sehen?«
»Ich glaube, er war vor allem überrascht«, erwiderte ich. »Aber immerhin hat er mir eine Tasse Tee angeboten und mir so die Gelegenheit gegeben, mich von den Strapazen des Fuß marschs zu erholen.«
»Da bin ich aber froh. Ich hatte schon erwartet, er würde dich zur Begrüßung beschimpfen und dir mit den Fäusten drohen. Eine Tasse Tee ist doch bei weitem zivilisierter. Wie ist sein Cottage so?«
»Gemütlich«, sagte ich und beließ es dabei.
Ich hatte das Gefühl, in den Genuss eines Privilegs gekommen zu sein, indem ich einen Blick in Catchpoles Privatsphäre hatte werfen dürfen; wenn ich Jamie gegenüber jetzt beschrieb, wie sein Heim aussah, käme das einem Vertrauensbruch gleich. »Was liest du da?«
»Das Buch habe ich in der Bibliothek gefunden.« Jamie streckte mir das in Kalbsleder gebundene Werk hin. »Es handelt von der Franklin-Expedition.«
Ich hob die Augenbrauen. »Du liest ein Buch über Sir John Franklin?«, sagte ich. »Der die Arktis erforscht hat?«
»Die Bandbreite deines Wissens erstaunt mich immer wieder aufs Neue«, sagte Jamie.
»Dasselbe könnte ich über die Wahl deiner Lektüre sagen. Du solltest über im Sonnenlicht gleißende Strände auf Tahiti lesen und nicht über eine Expedition, deren Spuren sich auf ewig in den eisigen Weiten der Arktis verloren haben.«
Ich schnalzte mit der Zunge. »Kein Wunder, dass du dich über mich geärgert hast.«
»Vielleicht solltest du mir dabei behilflich sein, ein geeigneteres Thema zu finden?«, schlug Jamie vor. »Ich wollte gerade wieder in die Biblio …«
Er brach den Satz mitten im Wort ab, als Wendy vom Dienstbotenflur in die Küche geeilt kam.
»Hallo, Fremde«, begrüßte er sie fröhlich. »Hast du dir inzwischen eine neue Route für deine Wanderung zurechtgelegt?«
»Noch nicht«, sagte Wendy. Sie trug weite Leggings und den blassgrauen selbstgestrickten Pullover. Ihr langes graues Haar hatte sie mit einer Schildpattspange im Nacken zusammenge-rafft und ihre schweren Wanderstiefel gegen Hüttenschuhe eingetauscht.
»Du hast den ganzen Morgen über deinen Karten gebrütet, du fleißiges Mädchen«, sagte Jamie neckend. »War es so schwierig?«
»Es gibt mehr Möglichkeiten, als ich angenommen hatte«, sagte Wendy. »Es wäre besser, wenn ich eine Übersichtskarte hätte, aber ich finde meine nicht. Ich muss sie zu Hause gelassen haben.«
»Das ist wirklich ärgerlich«, sagte ich,
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